Literaturnobelpreis für Kazuo Ishiguro: Die Welt weiten
Der Literaturnobelpreis für Kazuo Ishiguro ist eine gute Wahl. Konsequent bewegt sich die Stockholmer Jury in Richtung eines immer umfassenderen Literaturbegriffs. Ein Kommentar.
Es war vorauszusehen, dass die Schwedische Akademie nach dem Literaturnobelpreis für Bob Dylan zurückkehren würde zum literarischen Tages- und Jahresgeschäft. Obwohl Bob Dylan immer wieder als Favorit gehandelt worden war, waren doch Verblüffung und auch Streit groß, als der amerikanische Sänger und Songschreiber vergangenes Jahr die Auszeichnung erhielt. Ein Popstar, kein klassischer Schriftsteller! Dann zierte der sich auch noch so, zeigte sich ignorant, ließ so gar nichts von sich hören: kein Wort des Danks, kein Auftritt bei der Verleihung im Dezember in Stockholm. Nur Schweigen. Und erst viele Monate später raffte er sich zu einer nicht gerade denkwürdigen Dankesrede auf.
Insofern ist es keine große Überraschung, dass der 1954 im japanischen Nagasaki geborene britische Schriftsteller Kazuo Ishiguro nun zum Literaturnobelpreisträger gekürt wurde. Einerseits. Andererseits ist die Wahl von Ishiguro nicht nur eine gute, korrekte, sondern sehr wohl bemerkenswerte, auch dezent überraschende. Aus vielerlei Gründen.
Wer auf Ishiguro beim britischen Wettanbieter Ladbrokes Geld gesetzt hätte, wäre um eine ordentliche Summe reicher geworden. Anders als die seit Jahren immer wieder genannten Autoren und Autorinnen, die ewigen Nobelpreiskandidaten wie beispielsweise der Kenianer Ngugi wa Thiong'o, der Japaner Haruki Murakami, die Kanadierin Margaret Atwood, der Südkoreaner Ko Un oder der Israeli Amos Oz, fiel der Name von Ishiguro selten bis nie im Zusammenhang mit dem Literaturnobelpreis. Zu schmal schien bislang sein Roman-Werk, zu überlagert von seinem 1989 veröffentlichten, mit dem Booker-Preis ausgezeichneten und vor allem enorm erfolgreich verfilmten Roman „Was vom Tage übrig blieb“. Dieser Roman gilt überdies nicht als über die Maßen welthaltig, sondern als Exemplar des typisch Britischen: Er erzählt von einem Butler in einem englischen Landhaus der fünfziger Jahre und seinen Erinnerungen.
Kazuo Ishiguro passt gut in diese Linie von Modiano bis Dyla
Bemerkenswert ist nun, dass die Nobelpreisjury unter ihrer neuen, erst seit 2013 in der Jury sitzenden und seit 2015 amtierenden Chefin Sara Danius ihren Literaturbegriff seit Jahren gezielt, geradezu programmatisch erweitert. Bevor sie Dylan den Preis zusprach, fiel das schon 2014 auf, als niemand den französischen Schriftsteller Patrick Modiano auf der Rechnung hatte, weil sein Werk zu geschlossen erscheint, es zu sehr einem der Kernbereiche der Literatur verpflichtet ist, der Erinnerung. Das fehlende politische Signal wurde nach seiner Wahl bemängelt. Ein Jahr später ging der Nobelpreis an die weißrussische Autorin Svetlana Alexijewitsch, woraufhin Stimmen laut wurden, dass deren Bücher zu dokumentarisch seien, zu reportagenhaft, die Jury nur politisch entschieden hätte.
Kazuo Ishiguro passt gut in diese Linie von Modiano bis Dylan. Es heißt in der Begründung nicht nur, dass er wegen seiner dystopischen Romane „den Abgrund unserer vermeintlichen Verbundenheit mit der Welt“ bloßlege, sondern sein Werk von einer „großen emotionalen Kraft“ getragen werde. Ishiguro ist ein genuiner Erzähler, er scheut sich nicht vor Gefühlen und unterhaltenden Elementen, nicht zuletzt ist er vom Kino affiziert und schreibt selbst Drehbücher. Sein Englisch ist ein schönes, melodiöses, smartes, und in seinen jüngeren Romanen und Erzählungen bewegt Ishiguro sich gern in der Nähe von Genres wie Fantasy und Science-Fiction. Selbst wenn er dafür, wie in seinem letzten Roman „Der begrabene Riese“, eine historische Zeitreise ins fünfte Jahrhundert Britanniens machen muss, in eine Welt voller Drachen, Kobolde und Menschenfresser.
Außerdem zeichnet die Jury mit ihm nicht nur einen Genre-Wanderer aus, sondern auch einen Weltenwanderer, der trotz der langen britischen Sozialisation seiner Herkunft, seinem Geburtsland tief verbunden ist. In unserer globalisierten Welt voller Migrationbewegungen ist er ein geradezu idealtypischer Literaturnobelpreisträger, Sprachraum hin oder her. Ach ja, und Kazuo Ishiguro schreibt auch Songtexte und spielt leidenschaftlich gern Gitarre. Salman Rushdie hat es in seiner Gratulation auf den Punkt gebracht: Roll over Dylan.