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Die neuen Pokémons sind überall zu finden: auf der Straße, in Büroräumen, der Wohnung. Dieser Pokémon-Spieler streift durch Toronto, Ontario.
© Reuters / Chris Helgren

Hype um Pokémon Go: Die Welt als Spielplatz

Alle sind verrückt nach „Pokémon Go“ - ein Spiel, das dazu animiert, die fiesen, kleinen Tiere im Freien zu jagen. Erweiterte Wirklichkeit, jetzt für jeden Handy-Nutzer.

Es ist eine Frage, die in den siebziger und achtziger Jahren jedes Publizistikseminar beseelte. Eine Frage, mit der Kulturschlauberger seit Jahrzehnten ihre Aufsätze über Objektivität und die Widersprüchlichkeit von Kommunikation anreichern. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Paul Watzlawick stellte sie in den Siebzigern, und beantwortete sie ungefähr dahingehend, dass es zahllose Auffassungen von Wirklichkeit gebe; jeder Mensch biege sich seine eigene Weltsicht zurecht.

Man könnte diese These nun getrost im Abklingbecken der vielen überflüssigen Kommunikationstheorien vermodern lassen, wenn es nicht ein Phänomen gäbe, das der alten Frage eine interessante neue Facette hinzufügt. Dieses Phänomen heißt „Augmented Reality“ – angereicherte Realität. Es funktioniert so: Ein Smartphone zeigt auf dem Bildschirm ein Abbild der Umgebung und fügt dieser realen Welt irgendwelche Figuren oder Dinge hinzu, die in Wahrheit dort aber gar nicht sind. Kleine gelbe Tiere zum Beispiel. Man kann sie suchen, ihnen hinterherrennen und sich dabei ein Bein brechen, weil man nur auf das Handydisplay starrt und nicht auf Bordsteinkanten achtet. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Kommt auf die Spielekonsole und die richtige App an.

In den USA, in Australien und Neuseeland ist seit einigen Tagen ein sogenanntes Augmented-Reality-Game auf dem Markt: „Pokémon go“. Pokémons? Genau, diese kleinen netten (oder fiesen) Tierchen, die Pikachu heißen oder Sharizard, und mit denen Kinder in den neunziger Jahren ihre Eltern malträtierten. Beziehungsweise ihren Gameboy. Es ging stets darum, die wilden Viecher zu „trainieren“ und sie dann aufeinander loszulassen. Dazu musste man sie allerdings erst einmal einfangen. Das Kind erledigte diese Aufgabe zutiefst in sich versunken auf dem Sofa oder am Esstisch; lediglich zuckende Fingerglieder und ein gelegentlich aufglimmender Blick aus ansonsten leblosen Augen signalisierte den Erziehungsberechtigten, dass sich ein Lebewesen mit im Raum befand.

Der Nutzer muss raus auf die Straße für das Spiel

Die Pokémons gibt es immer noch, aber nicht mehr auf dem Sofa, sondern mit dem Zusatz „go“. Das macht die Sache aufregender, aber leider nicht ungefährlicher. Denn nun kommt die Augmented Reality ins Spiel. Es erinnert etwas an die „Virtual Reality“, jene neue Technik, mit deren Hilfe der Betrachter komplett in eine virtuelle Umgebung eintauchen kann. Augmented Reality kommt ohne klobige 3-D-Spezialbrillen aus, sondern funktioniert viel einfacher auf dem Handybildschirm.

Also dann: Lasst uns die Realität „anreichern“. Schnell rüber auf die Straße, zur nächsten Ampel, in Richtung Kirche – dort hat die App ein wildes Pokémon platziert, das es nun einzufangen gilt. Dazu muss der Spieler sein Handy in Richtung des (nicht existierenden) Tierchens halten. Kann gut sein, dass mehrere Kinder oder Erwachsene mit ihren Handys durch die gleichen Straßen oder Stadtparks irren, geleitet von GPS-gesteuerten Handys, alle auf der Suche nach nicht vorhandenen Figuren. Man muss es sich wohl so ähnlich vorstellen wie auf der A 8 auf dem Weg nach Italien, wenn alle Autos wie ferngesteuert plötzlich die Ausfahrt Irschenberg nehmen. Man sieht nichts Bedrohliches, aber die Navis haben vor einem Stau gewarnt. Den es manchmal gar nicht gibt.

Die Faszination, eine Fantasiewelt mit der Wirklichkeit zu vereinen, ist offenbar enorm. „Pokémon go“ soll jetzt schon so beliebt sein wie Twitter, Facebook und Instagram. In Deutschland konnte man das Spiel bis Dienstagabend noch gar nicht herunterladen, wobei die einschlägigen Zeitschriften allerlei Tipps bereithielten, wie es angeblich doch schon ging. Die größten Auswirkungen sind an der Börse zu spüren: Der Kurs des Herstellers Nintendo ist um 25 Prozent nach oben geschnellt, womit das Unternehmen auf einen Schlag elf Milliarden Dollar mehr wert ist als vor einer Woche.

Bedenken wegen des Datenschutzes? Kennen Pokémon-Fans kaum

Vieles spricht dafür, dass die Jagd auf Pokémons in einer realen Welt auch in Deutschland alle Rekorde brechen wird – sogar ohne den üblichen Hype, wie ihn beispielsweise Apple bei jeder Produkteinführung inszeniert. „Pokémon go“ ist ein Selbstläufer. Es hängt wohl damit zusammen, dass das alte Spiel bei den unter 30Jährigen ein Klassiker ist, wie „Mensch ärgere dich nicht“ in der Generation ihrer Eltern. Fernsehserien, 27 Kinofilme, unzählige Merchandising-Produkte, 200 Millionen verkaufte Videogames: Pokémon durchdringt die Gesellschaft der Jungen wie kaum ein anderes Produkt der modernen Spieleindustrie. Und viele, die mit den Pokémons aufgewachsen sind, werden sich als junge Erwachsene von der Begeisterung um die Augmented Reality anstecken lassen. Bedenken um Datenschutz, weil die App auf den Inhalt des Google-Kontos zugreift (auch wenn das inzwischen per Update eingeschränkt wurde)? Unter Pokémon-Fans offenbar kaum vorhanden.

Dafür warnen Jugendschützer vor anderen Gefahren. Die unkontrollierte Jagd nach virtuellen Tieren auf echten Straßen könne zu Autounfällen und schlimmen Verletzungen führen. Auch gibt es mittlerweile eine Online-Petition mit dem Titel „Verhindert, dass Pokémon auf Friedhöfen auftaucht“.

Auf der anderen Seite offenbart „Pokémon go“ ganz neue Perspektiven bei der Kindererziehung. Wie sinnlos und frustrierend ist es für Eltern, dem Nachwuchs das stundenlange regungslose Herumhängen beim Daddeln mit dem Handy verbieten zu wollen. Jetzt befiehlt das Gerät den Kindern, rauszugehen und sich zu bewegen. Und weil Handys über größere Autorität verfügen als Erwachsene, gehorchen ihnen die Kinder vermutlich auch.

Wie es scheint, kann die Wirklichkeit auch mit sinnvollen künstlichen Komponenten angereichert werden. Paul Watzlawick hätte das womöglich gefallen.

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