Neues Museum Berlin: Die vergessene Göttin
Archäologie und Herlinde Koelbls Fotokunst: Das Neue Museum Berlin zeigt Schätze aus Turkmenistan - eine archäologische Sensation.
Margiana, das klingt magisch, geheimnisvoll. Niemand kann genau sagen, was sich dahinter verbirgt. In Fachkreisen weiß man zwar seit der Grabung des sowjetischen Archäologen Viktor Sarianidi 1972 in Gonur Depe im äußersten Osten Turkmenistans, dass es sich um eine Hochkultur handeln muss, die ihre Blüte in der Bronzezeit zwischen 2300 und 1800 vor Christus erlebte. Inzwischen hat sich der Begriff Oxus-Kultur eingebürgert, so lautet der antike Name des Flusses Amu Darja, der das Wasser für die gesamte Region lieferte. Gonur Depe bedeutet so viel wie grauer Hügel, der Ort liegt im Delta eines anderen Flusses, des Murgab, der heute in der Wüste versickert.
Vor 4000 Jahren erstreckte sich hier eine blühende Landschaft, wie die Forschungen von Sarianidis ergeben haben. Bis zu seinem Tod 2013 war er hier tätig, eigentlich hatte er gehofft, einen Hügel der Eisenzeit auszugraben. Doch was er fand, war eine deutlich ältere Stadt.
Zum ersten Mal werden nun 260 Objekte dieser noch weitgehend unbekannten Hochkultur außerhalb Turkmenistans gezeigt. Nach jahrelangen Bemühungen wurde im Januar die Erlaubnis zu der einmaligen Schau in Berlin erteilt; nun sind die Funde aus Gonur Depe im Untergeschoss des Neuen Museums in einer Ausstellung des Museums für Vor- und Frühgeschichte zu sehen. Museumsdirektor Matthias Wemhoff hatte zudem eine besondere Idee: Er bat die Fotografin Herlinde Koelbl darum, sich den teils 4000 Jahre alten Objekten mit ihrer Kamera zu nähern und die Magie von Margiana einzufangen.
Jahrzehnte lang hat Herlinde Koelbl Politiker und Prominente fotografiert, in deutsche Wohnzimmer geblickt, Männer- und Frauenbilder studiert und zuletzt Flüchtlinge an den Rändern Europas porträtiert. Nun hat die 78-Jährige eine vorvergangene Zeit in den Fokus genommen: Am Eingang finden sich zwei beleuchtete Riesenfotos von Gonur Depe, wie es sich täglich kurz nach Sonnenaufgang darbietet – das rötliche Licht modelliert die Lehmmauerreste. Bei näherem Hinschauen erkennt man die Stadtmauern und den mächtigen Palast, dessen Mauerwerk von kleinen dreieckigen Fenstern durchbrochen ist. „Wir wissen, dass er mindestens zwei Stockwerke gehabt haben muss“, so Wemhoff.
Man kann sich ausmalen, wie die frühzeitliche Metropole mit ihren Türmen und und den zahlreichen Brennöfen zur Keramikherstellung auf einen Reisenden gewirkt haben muss. Die Hochkultur von Gonur Depe befand sich auf Augenhöhe mit denen von Ägypten und Mesopotamien, auch Kontakte nach Elam (heute Iran) und zur Indus-Kultur sind nachgewiesen. Überleben konnten Städte damals nur, wenn sie über Wasser verfügten und deren Verteilung managten – sie war die Basis des Wohlstands. Davon zeugen hier zwei Tonröhren, die schon damals das gesamte Gebiet durchzogen. Die Stadt pflegte Kontakte ins heutige Usbekistan, wo Zinn gewonnen wurde, in die Steppengebiete des Aralsees, ins heutige Afghanistan. Von dort stammt der Lapislazuli für die wunderschönen Ketten, die in Berlin zu sehen sind.
Trotz all dieser Einflüsse und Handelsbeziehungen hat sich die Oxus-Kultur ihre Eigenheiten bewahrt. In einer kleinen Vitrine finden sich Streitaxtköpfe in Tierform, Siegel aus Metall, Steingefäße und dünnwandige Keramikobjekte. Gerade die Keramik kann sich neben vergleichbaren Produkten Mesopotamiens oder des Mittelmeerraums sehen lassen. Eine Schrift aus dieser Hochkultur ist nicht überliefert, dafür aber zahlreiche kleine Tierfiguren, Tier- und Menschendarstellungen.
Vor allem Kompositfiguren müssen sehr beliebt gewesen sein. So thront ein kleiner Kopf auf einer breiten Specksteinfigur, als trüge die Dame einen Reifrock – vermutlich eine Göttin. Bei den meisten der kleinen Skulpturen aus Ton oder Stein handelt es sich wohl um Göttinnen. Koelbl fotografierte bei einer von ihnen nur den Kopf und vergrößerte ihn: Plötzlich lebt diese Frau, schaut bescheiden oder stolz, je nach Blickwinkel oder Beleuchtung. Eine Göttin mit Schlitzaugen und Adlernase, einen Mund hat sie nicht, wie auch die anderen nicht. Manche tragen einen trapezförmigen Kopfschmuck, wie er bis heute zur Tracht junger Turkmeninnen gehört – auch diese hat Herlinde Koelbl fotografiert. Zu den Höhepunkten der Ausstellung zählen Metallsiegel mit Tier- oder Ornamentdarstellungen und die hervorragend gearbeiteten Kosmetikfläschchen: Schönheit muss bedeutend gewesen sein in dieser Kultur. Zu sehen ist auch, wie in den Königsgräbern Wagen und Tiere mit beerdigt wurden. Im Alltag diente wohl das Kamel als Transportmittel, wie die Funde beweisen.
Im Vorraum zeigt Herlinde Koelbl Fotos aus dem traditionellen und modernen Turkmenistan, Bilder aus einem verschlossenen Land, das sich jetzt vorsichtig öffnet. Durch Empathie und Sensibilität hat die Fotografin Zugang zu den Menschen gefunden, so schlägt sie den Bogen aus einer fernen Epoche bis in die Gegenwart. Die Archäologie durch künstlerische Fotografie beleben: Das Experiment macht Lust auf weitere Projekte.
Neues Museum, bis 7. Oktober. Täglich 10 – 18 Uhr, Do 10 – 20 Uhr, Katalog 39,95 €
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