Europäischer Filmpreis 2017: Die Suche nach der Seele
Gemeinsam zerrissen: Zum 30. Mal wird der Europäische Filmpreis verliehen – in Berlin, wo 1988 alles angefangen hat. Ein Überblick über Geschichte und Gegenwart der "europäischen Oscars".
Man wäre zu gern dabei gewesen, 1988 in der Atlantic-Suite des Berliner Hotels Kempinski. Die Größen des Autorenkinos trafen sich anlässlich der Verleihung eines vom Berliner Senat gestifteten Filmpreises, um über ihre Verantwortung für das europäische Kino zu sprechen. West-Berlin war Kulturstadt Europas, ihr Kultursenator Volker Hassemer hatte der Idee eines Europäischen Filmpreises den Weg bereitet.
Die Namen des exklusiven Kreises standen für gelebte Kinogeschichte: Bernardo Bertolucci, Ingmar Bergman, Richard Attenborough, Wim Wenders, István Szabó. Schon damals mischte sich eine jüngere Generation um Isabelle Huppert, Krzysztof Kieslowski und Pedro Almodóvar unter die Altvorderen, und einen Tag später, am 26. November, war es soweit: Im Theater des Westens wurde erstmals der Europäische Filmpreis verliehen. Gründungspräsident Bergman beschränkte die Runde zunächst auf 99 Filmschaffende – weshalb es in den nächsten Jahren auch durchaus noch möglich war, die Gala mit Familienatmosphäre im Spiegelzelt zu veranstalten, der heutigen Bar jeder Vernunft. Eine Europäische Filmakademie, vergleichbar der Oscar Academy, gab es noch nicht.
Es war eine andere Zeit, auch ein anderes Kino. Berlin lag mitten im geteilten Europa, fast ausnahmslos männliche Altmeister dominierten die europäische Filmkunst. Ein Jahr später fiel die Mauer, und die Politik holte nach, was das Kino längst vorgemacht hatte. Curt Bois dankte auf Knien, der russische Regisseur Nikita Michalkow stürzte herbei, um ihm einen Sack Kaviar zu schenken, und Kieslowski bedankte sich für die Auszeichnung seines Films „Ein kurzer Film über das Töten“ mit den Worten: „Ich hoffe, Polen ist ein Teil von Europa.“
Die Schutzpatronin des europäischen Kinos
Damals wurden in schlaflosen Nächten Nägel mit Köpfen gemacht. Die Crème de la Crème des europäischen Autorenfilms beschloss die Gründung einer übergreifenden Institution, einer Schutzpatronin des europäischen Kinos. Seit 1991 heißt diese noch heute in Berlin ansässige Organisation Europäische Filmakademie, bis heute ist sie für die Vergabe der Europäischen Filmpreise zuständig. Die Trophäe hatte zunächst die Gestalt eines kurzbehosten Jungen, Felix genannt und von Markus Lüpertz gestaltet. 1997 wechselte sie Gestalt und Geschlecht, wurde namenlos und verwandelte sich in eine feminine Silbertrophäe.
Bis heute wird die Auszeichnung manchmal der „europäische Oscar“ genannt. Das klingt nach Glamour und rotem Teppich – wofür das europäische Kino aber kaum noch steht, weil ihm die Stars von Format langsam abhanden kommen. Diesen Titel reklamieren inzwischen die englischen Baftas für sich, wo man bei der Trophäenvergabe zunehmend nach Hollywood schielt. Die Europäische Filmakademie mit inzwischen über 3200 wahlberechtigten Mitgliedern versteht sich dagegen in der Tradition des Autorenkinos. Wobei sie der französischen Komödienwelle nach dem Erfolg von „Ziemlich beste Freunde“ mit der Einrichtung eines eigenen Komödienpreises Rechnung zu tragen versuchte.
An diesem Samstag wird der Preis zum 30. Mal vergeben, die von Thomas Hermanns moderierte Jubiläumsgala findet im Haus der Berliner Festspiele statt. Und wieder hat sich Europa gewandelt. Manchmal fällt es schwer, die widersprüchlichen Befindlichkeiten zu verstehen: auf der Suche nach einer gemeinsamen Identität, aufgerieben von Wirtschaftskrisen und inneren Spaltungsprozessen, ohne Linie in der gemeinschaftlichen Verantwortung für die humanitäre Flüchtlingskatastrophe, ein Spielball nationalistischer Kraftmeier im Vereinigten Königreich, in Polen, Ungarn und der Türkei. Wie kann unter diesen politischen Verhältnissen ein europäisches Kino überhaupt aussehen?
Ein europäisches Stimmungsbild sucht man vergebens
Die fünf Kandidaten für den besten Film behandeln ein weites gesellschaftliches Feld, es ist ein starker Jahrgang. „120 BPM“, der zur Zeit in den deutschen Kinos läuft, blickt mit viel Verve und Leidenschaft zurück auf die französische Anti-AIDS-Bewegung der frühen Neunziger, zu der auch Regisseur Robin Campillo gehörte. Aki Kaurismäkis „Die andere Seite der Hoffnung“ nimmt sich eines syrischen Geflüchteten an, in einem Land, das sich selbst immer auch etwas fremd ist. Soviel Humanismus muss sich das europäische Kino gerade jetzt leisten. „Loveless“ von Andrei Swjaginzew, der bei uns erst 2018 ins Kino kommt, liefert ein desolates Bild von Russland, in dem die Schwächsten der Schwachen, die Kinder, sich selbst überlassen bleiben. Man muss Swjaginzews letzten Film, das bildgewaltige Epos „Leviathan“, nicht kennen, um zu verstehen, dass der russische Regisseur hier etwas sehr Grundsätzliches über sein Land zu erzählen versucht.
Lieblos ist gar kein Ausdruck für die schockgefrostete Gefühlswelt dieses Beziehungsdramas. Und dann natürlich die beiden großen Gewinner aus Berlin und Cannes: „Körper und Seele“ von Ildikó Enyedi und Ruben Östlunds „The Square“, die sich beide auch gute Chancen auf den Drehbuch-Preis ausrechnen können. Zwei Filme, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Hier die ungarische Regisseurin, die nach über 20 Jahren Abstinenz vom Weltkino quasi wiederentdeckt wurde. Da der schwedische Hotshot, der sich mit seiner bitterbösen Satire in die Superstar-Sphären des Arthousekinos katapultierte. Hier ein sprachloses Paar in einer brutalisierten Welt, die erst in ihren Träumen in Gestalt zweier Hirsche zueinanderfinden. Da der zynische, hoffnungslos von sich selbst überzeugte Narzisst, der sich in die Selbstlügen seiner Liberalität verstrickt.
Der Wettstreit um die Krone des europäischen Films ist in diesem Jahr auch ein Duell zwischen Berlin und Cannes, in deren Wettbewerben die fünf Filme liefen. Ein europäisches Stimmungsbild lässt sich anhand der fünf Filme nur in Facetten nachzeichnen, sehr unterschiedlich ist ihr Tonfall, sehr diffus mitunter das Unbehagen. Aber sie zeigen Risse auf, die sich quer durch die Nationen und das fragile europäische Gesamtgefüge ziehen.
Hochkarätige Konkurrenz für Paula Beer als beste Darstellerin
Ildikó Enyedi bekam eine Abmahnung, weil sie sich nach dem Goldenen Bären kritisch über die ungarische Politik äußerte. Seitdem schweigt sie zu dem Thema. In „Die andere Seite der Hoffnung“ gibt es zwar kaum sichtbaren Fremdenhass, aber der Film zeigt die Utopie eines Land, eines ganzen Kontinents. Und Utopien sind eben dort nötig, wo in der Realität großer Mangel herrscht. Die westlichen Gesellschaften drohen an ihren eigenen Ansprüchen zu scheitern. Die böse Ironie dieses Befunds liegt vielleicht schon darin, dass „The Square“, der in seiner Gesellschaftskritik am deutlichsten wird, gleichzeitig auch für die beste Komödie nominiert ist.
Das deutsche Kino muss sich nach dem Erfolgsjahr 2017 und dem Triumphzug von „Toni Erdmann“ (Euro-Preise gab es in allen fünf Hauptkategorien) wieder bescheiden. Nominiert für den besten Film wurden weder Maria Schraders „Vor der Morgenröte“ (dafür immerhin Hauptdarsteller Josef Hader) noch Fatih Akin mit „Aus dem Nichts“ – und leider auch nicht „Western“ von Valeska Grisebach.
Paula Beer ist für ihre Rolle in François Ozons „Frantz“ als beste Darstellerin im Rennen, doch sie hat hochkarätige Konkurrenz, Juliette Binoche („Meine schöne innere Sonne“) und Isabelle Huppert („Happy End“). In der Kategorie „Beste Komödie“ dürfte Simon Verhoevens „Willkommen bei den Hartmanns“, ein Feel-Good-Movie über die deutsche Willkommenskultur, ebenfalls kaum eine Chance gegen „The Square“ haben.
Späte Gerechtigkeit widerfährt dem russischen Altmeister Alexander Sokurow, der viermal für den Filmpreis nominiert war, ohne ihn je zu gewinnen. Jetzt wird er in Berlin für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Nach einer politisch aufgeladenen Zeremonie 2016 in Breslau dürfte die Verleihung des Europäischen Filmpreises nun wieder etwas friedlicher ablaufen. An den Zeiten, in denen wir leben, liegt das sicher nicht. Und auch nicht an den Filmen, die diese Zeiten hervorbringen.
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