Berlin Festival: Die Stunde der Ausrufezeichen
Zum Abschluss des dreitägigen Berlin Festivals spielten unter anderem Warpaint, Jessie Ware, Woodkid und das Berliner Techno-Trio Moderat in der Arena.
Matsch müsste her. Rutschen und Glitschen gehören ja seit Woodstock zu einem kompletten Festivalerlebnis dazu. Auf dem Flughafen Tempelhof verhinderte die durchgängige Asphaltfläche das noch, beim neuen Berlin Festival auf dem Arena-Gelände gibt es durch die große Wiese vor der Hip-Hop-Bühne nun echtes Matschpotenzial. Als am Sonntagnachmittag dann ein ausgiebiger Platzregen niedergeht, hüpfen zwei halbnackte Blumenkinder schon erwartungsfreudig an den Gastro-Buden vorbei. Ready to rutsch! Aber daraus wird nichts: Die Wiese schluckt alles, nur vor den Toilettenhäuschen gibt’s ein bisschen Matsch – immerhin bilden sich einige Riesenpfützen auf den Wegen. In einer davon schwimmen Papierschiffchen.
Derweil spielen in der Arena die wunderbaren Warpaint das letzte Konzert ihrer Europatournee. Auf diesem demonstrieren sie, welche Meisterschaft sie darin entwickelt haben, ihre Lieder an die Grenze des Auseinanderbrechens zu führen oder sie wahlweise fast zum Stillstand zu bringen, um sie dann allmählich wieder aufzurichten. Mal kündigt die Bassdrum, mal die zuckende Gitarre von Theresa Wayman diesen Neustart an – ein Effekt, der sich seltsamerweise kaum abnutzt. Den Höhepunkt setzt die Band aus Los Angeles in der Mitte des Sets mit den Songs „Undertow“ und „Love Is To Die“, die so eindringlich und auf verführerische Weise unheimlich sind, dass man sich wünscht, die vier Frauen würden ihren entschleunigten Düsterrock noch eine weitere Stunde zelebrieren.
Das geht natürlich nicht, denn die nicht minder bezaubernde Jessie Ware steht schon mit ihrer vierköpfigen Band bereit. Die 29-jährige Londonerin kommt ganz in Schwarz und mit strenger Pferdeschwanzfrisur auf die Bühne, ihre Begleiter tragen Schwarz-Weiß. Von kühler Eleganz ist auch der Eröffnungssong „Running“, bei dem leider – wie während des gesamten Konzertes – die Gitarre zu leise abgemischt ist. Jessie Ware setzt vor allem auf Songs von ihrem Anfang Oktober erscheinenden Album „Tough Love“, die – sieht man von dem schon als Single veröffentlichten Titelstück ab – nicht ganz mit dem brillanten Pop ihres Debüts mithalten können. Zumindest zünden sie live nicht recht. „Keep On Lying“ etwa kommt wie ein von Whitney Houston zu Recht abgelehntes Stück Kitsch-R’n’B rüber. Ähnlich enttäuschend leider auch der erste Eindruck von „You And I Forever“, vor dem die sympathische Sängerin auf ihren Ehering zeigt und erklärt, dass sie gerade geheiratet habe: „Dieser Song handelt davon, wie ich auf meinen Mann warte. Er hat einfach so verdammt lang gebraucht.“ Ist ja noch mal gut gegangen ...
An den drei Tagen des ausverkaufen Berlin Festivals kommen rund 15 000 Besucherinnen und Besucher in den Arena- Park. Das sind zwar 5000 weniger als im Vorjahr auf dem Flughafen Tempelhof, dennoch hatte man das Gefühl, dass deutlich mehr los war, weil das neue Areal nicht so weitläufig ist. Was auch Nachteile hat: Wegen Überfüllung sind Locations wie das White Trash oder das Badeschiff zeitweise geschlossen, an den Arena-Toren sowie vor dem Glashaus kommt es mitunter zu beklemmenden Menschenballungen. Zudem ist die Luft in der Arena nach über 40 Festivalstunden so stickig, dass man am liebsten eines der Notausgangstore aufreißen würde, um ein bisschen Sauerstoff in das abgestandene Schweiß- Rauch-Trockeneis-Gemisch zu lassen.
Das Moderat-Konzert wirkt wie ein wohltuendes Bass-Bad
Besonders heftig ist es während des Konzerts von Woodkid. Der Franzose zieht am Sonntagabend die größte Besuchermenge des Festivals an. Bis fast zu den Bierständen am Hallenende drängen sich die Fans, die umgehend in den Bann des brachialen Bombast-Pops von Yoann Lemoine alias Woodkid gezogen werden. Nebelhörnerdröhnen und Scheinwerferflackern kündigen den 31-Jährigen an. Dann ballert seine zwölfköpfige Band los. Sie erzeugt einen monumentalen Überwältigungssound, der nur deshalb gerade noch erträglich ist, weil Lemoine mit seinem Bariton dazu nicht laut und auftrumpfend singt, sondern eher wie ein liebeskranker Streuner, der gleich in Tränen ausbricht. Mit seinem Normalo-Hipster-Look (Basecap, Longsleeve und dunkler Vollbart) kontrastiert er zudem die auf der riesigen Leinwand gezeigten schwarz-weißen Computeranimationen. Vor allem die Kathedralen- und Städteansichten wirken, als stammten sie aus einem totalitären Fantasiestaat der Zukunft. Ex-Werbefilmer Woodkid hat dafür die passenden Hymnen. „Golden Age“ etwa, in dem die Trompete so schön zur Jagd bläst und die drei Schlagwerker den Rest der Band vor sich herprügeln. Und natürlich den von Glockenschlägen eingeleiteten und durch eine Telefonanbieterwerbung bekannt gemachten Song „Run Boy Run“. Woodkid spielt ihn als umjubelte Zugabe.
Völlig geplättet von dieser Stunde voller Ausrufezeichen kommen Moderat genau richtig. Das Berliner Elektronik-Trio leitet sein Set mit drei Instrumentalstücken seines ersten Albums ein und erzeugt sofort Clubatmosphäre. Es wird getanzt, bei neuen Akzenten ein bisschen gejubelt. Herausragend dann nach einer halben Stunde „Bad Kingdom“ mit Sascha Rings wehmütigem Gesang und das gleich hinterhergeschickte chillige „Damage“. Das Moderat-Konzert wirkt wie ein wohltuendes Bass-Bad. Wer braucht da noch eine Matsch-Rutsche?
Nadine Lange
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