Musiker Woodkid: Verhasstes Paris, ich liebe dich
Snobs, Kitsch, Fans: Yoann Lemoine flieht gerne mal aus Paris. Unter dem Namen Woodkid macht er Musik und wird auf der ganzen Welt gefeiert. Hier führt der Künstler durch seine Heimat Montmartre.
Yoann Lemoine zögert. Er hat die Tür zum Kunstbuchladen OFR geöffnet, um nicht mehr Woodkid sein zu müssen – das Pseudonym, unter dem er monumentalen Sehnsuchtspop aufgenommen hat. Die Idee war, kurz der Musik und den Gesprächen darüber zu entfliehen, und da schwingen sich plötzlich die Waldhörner und archaischen Trommeln der eigenen Lieder zu einem Höhepunkt auf – dank der Stereoanlage im Laden.
Nicht das erste Mal heute. Yoann Lemoine saß bereits in der Metro zufällig unter einer Werbung für seine Platte „The Golden Age“, dann ist er an einem Plakat für sein Album vorbeigegangen, besser: Er ist schnurstracks abgedreht, als er den stilvoll verhüllten Kopf gesehen hat. Das Bild hing an einem Kiosk an der Place de la Republique, eine der belebtesten Kreuzungen von Paris. Wo Yoann Lemoine auch hingeht, sein Alter Ego ist schon da: Woodkid.
Wie hier in der Rue Dupetit Thouars, Hausnummer 20. Marie hat vor ein paar Jahren das OFR mitgegründet, als Buchhandlung mit angeschlossener Galerie. Yoann Lemoine ist Freund des Hauses. Er lacht, als der erste Schock über die eigene Stimme abgeklungen ist. „Marie“, ruft er später zur Kasse hinüber. „Sag bitte, dass ich nicht vorher angerufen habe, damit du die Musik anstellst.“ Marie ist Ende 30, sie trägt lange blonde Haare und lächelt, als ob wir uns alle seit einem tollen Urlaub auf Korsika kennen. „Natürlich hast du vorher angerufen.“
So ist das Leben in Paris, könnte man denken. Leicht, charmant, ein bisschen kitschig zwischen all den hübschen Läden und Cafés. Die Traumstadt an der Seine, für Yoann Lemoine ist sie auch eine Albtraummetropole. Seine Hassliebe beginnt 1990. Er fährt als Siebenjähriger zum ersten Mal nach Paris, er sieht die beleuchteten Boulevards, die Stahlkonstruktion des Eiffelturms und beginnt davon zu träumen, eines Tages in dieser Stadt zu leben.
Dort, wo er lebt, gibt es das nicht, diese Größe, diesen Trubel. Der Junge ist ein Wanderer zwischen den Welten, den beiden Familien seiner Eltern: dem Bernsteinmarkt im polnischen Seebad Sopot und der Hitze im Städtchen Villefranche- sur-Saône, 25 Kilometer nördlich von Lyon. Als die Familie in Südfrankreich bleibt, sieht er Paris täglich im Fernsehen. Wie ein „Eldorado“ am Horizont, so erinnert sich Lemoine.
Im vergangenen Dezember wacht derselbe Junge eines Morgens in seiner Wohnung in Montmartre auf. Er ist nun 29 Jahre alt, trägt einen modisch fusseligen Bart, hat bereits Videos für Popstars wie Katy Perry und Lana Del Rey gedreht und als Woodkid gerade die erste Platte aufgenommen. Die Arbeit daran ist an dem Abend davor zu Ende gegangen. „Ich brauchte wieder frische Luft, ich musste raus.“ Innerhalb einer Woche packt er seine Sachen und zieht nach Williamsburg im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Das Ende einer Sehnsucht, Schluss, aus, c’est la vie?
Gerade vier Monate ist es her, dass Yoann Lemoine aus der französischen Hauptstadt türmte, nun steht er an der Place de la Republique und versteckt sein Gesicht. Er trägt trotz grauem Himmel eine mattgelb umrandete Sonnenbrille, ein schwarzes Basecap. Seit er vorgestern Abend in einer wichtigen Show des französischen Fernsehens aufgetreten ist, weiß Frankreich, wie er aussieht. „Unangenehm“, findet er es. „The Golden Age“ hat hervorragende Kritiken erhalten. „Ein bisschen zu überschwänglich“, meint Woodkid. Er sucht Ablenkung. Deshalb steht er hier im OFR.
Yoann Lemoine erzählt, dass er von seinen besten Freunden vor fünf Jahren hierher geführt wurde, seitdem wühlt er ausgiebig in den Auslagen, er zieht Bildbände des Fotografen William Eggleston und ein Designbuch über die Wiener Werkstätten hervor. „Solche Sachen kriege ich in New York nicht.“ Er zeigt Fotos und Bilder von jungen Künstlern, die im hinteren Raum an der Wand lehnen. Er muss sich bücken, um sie genauer zu sehen, ab 200 Euro gibt es ein Bild. „Aber wer kauft schon Kunst in Paris?“, fragt er.
Er hat heute Morgen gerade welche im Internet gekauft, verrätselte Bilder des belgischen Malers Stephane Balleux. „Hab sie aber schon vorher gesehen“, erklärt er. Im OFR kauft er das Buch über die Wiener Werkstätten und einen Ausstellungskatalog der niederländischen Fotografin Rineke Dijkstra. Andere Bände aus dem Sortiment hat er einige Tage zuvor erhalten. Am vorherigen Samstag hat Yoann Lemoine seinen 30. Geburtstag gefeiert, in der Bar Le Pompon, nahe der Grands Boulevards. Es gab ein großes Buffet mit Foie-Gras und viel Käse, denn den liebt er, egal ob Blauschimmel, Brie oder Camembert.
Die Gäste tanzten zu Rihanna und Britney Spears, um zwei Uhr ging jeder nach Hause. „Es waren nur Freunde da, 200 Leute.“ Die kamen mit Büchern aus dem OFR als Geschenk. Er zieht zwei Bücher von Umberto Eco aus dem Regal, „Die Geschichte der Schönheit“ und „Die Geschichte der Häßlichkeit“, oder hier, dieser Band von William Eggleston. Marie muss vergangenes Wochenende das Geschäft ihres Lebens gemacht haben. „Komm bald wieder“, sagt sie, als Yoann Lemoine den Laden verlässt. Mal schauen, es wird knapp in den nächsten Wochen.
„Früher haben wir uns mit Freunden hier im Laden getroffen und sind dann ein paar Häuser weiter zum Italiener gegangen“, erzählt Yoann Lemoine. Heute muss er wieder ins Studio zurück, E-Mails beantworten, die Tour im Frühjahr vorbereiten – obwohl er lieber die Bronchitis loswerden sollte. Seit zwei Wochen ist er krank, „der Stress“, erst seit vorgestern geht es besser. Jetzt ins Bett legen, in seine leer geräumte Pariser Wohnung mit dem Garten hinten, das geht nicht.
Links führt die schmaler werdende Rue du Temple ins Marais, das frühere Juden- und heutige Schwulenviertel. Yoann Lemoine biegt entschlossen nach rechts ab, vom Marais hält er nicht viel, obwohl er selbst schwul ist. Er geht auf die „Flash Cocotte“-Partys im Espace Pierre Cardin, wo selbst ernannte Modemuffel nahe der Place de la Concorde zu Elektromusik tanzen. Oder zu den Musikern vom Label Ed Banger, die in einigen Clubs House auflegen und das nicht nur für ein schwules Publikum.
Die Großstadt als Sammelbecken der Andersfühlenden – ein Grund für den Zuzug? „Ich bin ein Einzelgänger, meine Sexualität hatte mit dem Wunsch, nach Paris zu gehen, nichts zu tun.“ Der Bart, der graue Pullover, die schwarze Kappe, ja, aus ihm könnte ein veritabler Waldschrat werden. Und wie er an den Theatern und Bistros am Boulevard Saint-Martin entlanggeht! Guckt auf den Boden, die Schultern leicht nach vorn geneigt, als wolle er nicht gesehen werden. Hier zieht einer seine Kreise, aufgehoben in der Masse.
An einem großen Tor gibt Lemoine einen Zahlencode ein. Dahinter führt Kopfsteinpflaster zu einer kleinen Halle, die auch eine Werkstatt sein könnte, aber das Studio von Green United Music ist. Der Musiker holt eine Plastiktüte hervor, ausgebeult von Dutzenden Medikamentenschachteln. „Muss ich alles nehmen.“ In einer Schublade findet er seinen Lieblingstee. Er riecht an den Beuteln des Feinkosthauses Mariage Frères. Gewürzdüfte steigen auf. „Dafür liebe ich Paris.“ Er lächelt – und für einen Moment wirkt er völlig zufrieden mit dieser Stadt.
Als er kurz darauf auf einer großen Couch Platz nimmt, ist das Gefühl wie weggeblasen. Er redet von Paris wie von einer zickigen Geliebten. „Aus dem Eldorado meiner Jugend wurde ein Eldorado voller Snobs.“ Er hat seine Träume hier verwirklicht, er hat Illustration studiert, bei einer Filmproduktionsfirma unter Regisseur Luc Besson („Das fünfte Element“) gearbeitet, Videos drehen können und Werbefilme. Doch die Pariser nerven ihn. Sie sehen für ihn alle gleich aus („Sie tragen Schwarz zu Schwarz.“) und seien hochmütig. „Jeder rümpft die Nase über jemanden, der nicht aus Paris kommt. Dabei kommen die meisten Pariser selbst nicht aus der Stadt.“
Eine kreative Szene wie in New York oder Berlin fände er nicht, es ist „ein Dorf“. Eine kitschige Postkarten-Idylle für Hollywood („Midnight in Paris“ von Woody Allen: „Furchtbar!“), die ihm die Luft zum Atmen nimmt. „Paris ist beengt. Schon räumlich: Ein Autobahnring schnürt die Stadt ein. Sie kann sich nicht ausbreiten. Es gibt keinen Platz mehr, auch künstlerisch. Nur das Geschäft zählt.“ Er atmet kurz durch. „Es ist eine Festung.“
Mit 22 Jahren zog er von Lyon hierher. Er hatte die Geschichten vom Le Palace im Kopf, diesem verrückten Nachtclub, in dem in den 80er Jahren Andy Warhol, Grace Jones und aufgedrehte DragQueens tanzten. Den Club gibt es schon lange nicht mehr. Manchmal geht er heute ins Silencio nahe der Börse. Die Abende im von David Lynch gestalteten Club seien „ganz lustig“, das Silencio hat nur einen Nachteil: Es ist ein Mitgliederclub wie das Soho House in Berlin. Und Yoann Lemoine weiß nicht genau, ob er diesen elitären Ansatz gut finden soll.
Bevor er nach Montmartre zog, wohnte er vier Jahre südlich der Seine. Das hatte nichts von Extravaganz und Küsschen-hier-Küsschen-da. In der Nähe der modernen Bibliothèque François Mitterand lebte er mit einer Freundin auf 80 Quadratmetern, das ist beinahe großzügig für Pariser Verhältnisse, aber eben auch im 13. Arrondissement, Metrostation Olympiades, „für einige nicht das beste Viertel“, meint der Musiker. Zu Hause sah er Filme: Spielberg, Kubrick, Alain Resnais. Warum nicht im Kino? „Ich will liegen, wenn ich einen Film sehe, und ich möchte ihn ausstellen, wenn ich ihn nicht mag. Im Kino kann ich nicht rausgehen, das wäre einfach unhöflich.“
Ein Zuhause-Verkriecher, der Musik auf dem Bett hört, die Augen schließt und dabei Bilder im Kopf abruft. Vielleicht geht er deshalb nicht so gern spazieren. Zwei Stunden an einem Sonntagnachmittag in einem Pariser Park? Er schüttelt den Kopf. Von seiner Wohnung zum „La Maison Mère“, einem Restaurant bei ihm um die Ecke, das schon, aber das ziellose Flanieren auf den Boulevards ist ihm fremd. Ungerührt gibt er zu, dass er erst nach ein paar Jahren in Paris bemerkt habe, wie dicht einige Orte beieinander liegen – und zwar, als sein Vater ihn einmal besuchte und mit ihm eine Bootsfahrt auf der Seine unternahm. „Da habe ich die Punkte miteinander verbunden.“
So wie neulich. Als er mit einem Freund am Eiffelturm vorbeigegangen sei, diesem Symbol seiner Kindheit. Da standen sie plötzlich vor dem Bauwerk und fragten sich gegenseitig: Warst du schon mal oben? Machen das nur Touristen? Und dann fuhren sie hoch und sahen die Stadt aus der Vogelperspektive: die vergoldete Kuppel des Invalidendoms und die Glashalle des Grand Palais, in dem Karl Lagerfeld seine Chanel-Modeschauen inszeniert. „Wunderbare Mode für ältere Damen“, sagt Lemoine.
Er mag das Grand Palais und die Bibliothèque Mitterrand, weil sie den Raum öffnen und ihm das Gefühl der Beengtheit nehmen. Er erzählt, wie er vor ein paar Tagen am Flughafen Charles de Gaulle gelandet ist, wie die Pariser hinauseilten, um eine Zigarette zu rauchen und das Theater wieder losging: „Sie begannen sofort, sich zu beschweren: dass das Gepäck nicht schnell genug da war, jemand an der Schlange ihn überholte, dass sie zu lange warten mussten. Dann steigst du in ein Taxi, der Fahrer pöbelt dich an, weil deine Schuhe vielleicht zu nass sind oder du nur mit Karte zahlen möchtest.“ Er zuckt mit den Schultern. „So ist Paris: anstrengend. Kein Mensch wird dort noch gebraucht, wenn Sie die Stadt verlassen, nimmt jemand anderer Ihren Platz ein – und niemand wird sich an Sie erinnern.“
Was in seinem Fall nicht stimmt. Der transatlantische Pendler ist vergangene Woche auf Platz zwei der Albumcharts in Frankreich geschossen, an David Bowie und Justin Timberlake vorbei, in Deutschland kam der Newcomer auf einen sensationellen achten Platz. Die Hassliebe zu Paris scheint sich auszuzahlen.
Warum er überhaupt an die Seine zurückkommt, wenn alles so furchtbar ist? „Weil das Essen fantastisch ist! Der Käse ist phänomenal.“ Den bekomme er so in New York nicht, oder er ist aufgrund der Zollvorschriften pasteurisiert. Und natürlich sind die meisten seiner Freunde noch in der Stadt. „In Paris ist mein Herz“, sagt er. Er wird zurückkommen, ob für immer, das weiß er noch nicht.
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