Die Künstlerin Katharina Grosse: Die Stadt wird bunt
Kreative Störung: Zur Wiedereröffnung nach der Corona-Pause zeigt der Hamburger Bahnhof Katharina Grosses ausufernde Form- und Farbwelten.
Es gibt eine Pointe in dieser wohl einzigartigen Schau von Katharina Grosse im Hamburger Bahnhof. Vor zwei Jahrzehnten stand die Künstlerin schon einmal am selben Ort: im Schutzoverall und mit Sprühpistole vor einer meterlangen Wand, die sie mit Farbe bearbeitete.
Damals ging es um die Verleihung des allerersten Preises der Nationalgalerie für junge Kunst. Grosse war nominiert, genau wie Olafur Eliasson, Christian Jankowski und Dirk Skreber – der schließlich gewann. Sein kleines, surreales Bild zeigte zwei sauber gemalte Eisenbahnzüge aus der Vogelperspektive, die trotzig aufeinander zufuhren.
Wie ein später Triumph mutet der jetzige Auftritt der Berliner Künstlerin an, der ab Sonntag fürs Publikum geöffnet ist. Nicht weil sie 2000 das Nachsehen hatte, sondern als Reflex auf die damalige Frage nach dem Stand der Malerei. Skrebers eigenwillige Szenerie war trotz ihrer peniblen Darstellung ein Stück Konzeptkunst, sein Motiv Mittel zum Zweck.
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Katharina Grosse, Absolventin der Kunstakademien Münster und Düsseldorf, wo sie bei Gotthard Graubner studierte, setzt ihr Instrumentarium ganz anders ein. Nach der Idee – und diese Ausstellung hier blickt auf vier Jahre Vorlauf zurück – kommt die Malerei. Sie sprengt jeden Rahmen, ergießt sich großflächig über Architektur, wird erlebbar und diesmal sogar begehbar. Die Zeit der bescheidenen Wände ist endgültig vorbei.
Stattdessen markiert die Künstlerin den Ort ihrer Intervention. An den Marken kommt niemand vorbei. Nicht in der imposanten Bahnhofshalle, deren grauer Steinfußboden in einem Meer aus gelben, violetten, roten und neongrünen Strudeln versinkt.
Alles kann zum Malgrund werden
Und auch nicht draußen, wo Grosse mit Assistentinnen und Assistenten bis zum Umfallen gearbeitet haben muss: Hinter dem Hamburger Bahnhof geht die Farbe immer weiter, lässt die asphaltierten Wege leuchten und bezieht auch die vom Abriss bedrohten Rieck-Hallen – Achillesferse der Staatlichen Museen – gnadenlos in ihr All-over ein.
Was die kleine Ansammlung von Steinen vor der Tür bedeuten solle, wurde die Künstlerin während der Pressekonferenz gefragt; schließlich habe sie den Haufen komplett in Farbe gehüllt. Grosse denkt nach, und man merkt, dass sie einen Moment lang gar nicht weiß, welche Stelle gemeint sein könnte. Die Steine, sagt sie dann, seien ein Malgrund wie alles andere, was ihr während der Arbeit im Außenraum unterkomme. Möglich, dass irgendwo auch noch eine verlorene Socke herumliegt, über die sie mit der Sprühpistole gegangen ist.
Exakt geplant dagegen erhebt sich im Innenraum des Museums eine gewaltige Form. Ungefähr dort, wo vor 20 Jahren Grosses farbgetränkte Mauer stand. Doch diesmal reicht der vielfach gekerbte, treppenartige Körper aus Styrodur bis fast unter die Decke.
Caspar David Friedrichs "Eismeer" lässt grüßen
Ein gigantisches Ding, das an die gestrandeten Raumschiffe der „Alien“-Saga erinnert – und mit Absicht wohl auch an Caspar David Friedrichs Gemälde „Eismeer“, auf dem sich die Schollen zu einem Gebirge türmen. Grosses Berg weist Zacken wie nach einem Blitzeinschlag auf, vollkommen ungeometrisch, am ehesten noch mit den Skulpturen der zukunftsverliebten Futuristen zu vergleichen.
Skulptur: Die Künstlerin scheut das Wort. Für sie sind diese Körper, die ihr Werk schon lange prägen und von der Größe eines Hüpfballs bis zur monströsen XXL-Size reichen, vor allem Hindernisse. Kreative Störer, die sich der Künstlerin in den Weg stellen und malend überwunden werden wollen. Tatsächlich macht es kaum einen Unterschied wohin der Besucher in der Ausstellung blickt. Es ist, als sei die raumgreifende Arbeit einfach über alles hinweggegangen. Der Ort wird zu einem einzigen Bild – und der Besucher ein Teil davon, sobald er Grosses Ausstellung betritt.
„It Wasn’t Us“ nennt sie ihr expansives Experiment. Ein Gesamtkunstwerk, das sich schon 2000 ankündigte. Wenn auch in ungleich kleinerem Maßstab. Das Entgrenzte, die Möglichkeit zum endlosen Ausufern war allerdings damals bereits impliziert. Und Grosse, Jahrgang 1961, demonstriert in der großen Geste ihrer jüngsten Ausstellung ganz souverän, was sie seitdem aus ihrer Kunst gemacht hat.
Neonfarben fluten Wände und Straßen
Es waren erfolgreiche Jahre mit Projekten unter anderem im Nasher Sculpture Center in Dallas, dem MoMA PS1 in New York oder dem Moskauer Garage Museum of Contemporary Art. Grosse arbeitet stehts wiedererkennbar und doch jedesmal anders. Denn es kommt immer auf den Ort an. Hinter dem Hamburger Bahnhof lässt sich exemplarisch sehen, wie jenes Werk seinen angestammten Platz verlässt, um seine Umgebung zu transformieren. Aus dem ehemaligen Areal von Galerien und Ateliers ist eine hotspot für mediokre Architektur geworden. Bürotürme und Wohnhäuser säumen das Haus, dessen Inhalt das Bauland ungewollt aufgewertet hat. Man wähnt sich im Einflussgebiet der Kultur, die in wenigen Jahren ihren Anbau abgeben muss und damit empfindlich an Anziehungskraft verliert.
Grosse hebt diesen Aspekt nicht hervor. Aber wenn sie nun Straßen und Wände in einem Kraftakt mit Neonfarbe flutet, holt sich die Arbeit jenes Gebiet noch einmal für ein paar Wochen zurück. Oder erinnert zumindest daran, dass hier einmal ein ganzes Quartier für die zeitgenössische Kunst geplant war.
„It Wansn’t Us“, der Titel ihrer Schau, klingt vor diesem Hintergrund auf einmal ganz schön zweideutig. Denn natürlich spiegelt sich in der Entwicklung der einstigen Bahnflächen auch Berlins übergeordnetes Schicksal seit dem Mauerfall: Aus dem Traum der Kreativen wurde eine Spielwiese für Investoren.
Kaum jemand erinnert sich noch an die schlichten Lagerhallen, die das Gelände einmal prägten – wo Künstler wie Tecita Dean oder Olafur Eliasson ihre Studios hatten und Gras über die ungenutzten Schienen wuchs. Es gab reichlich Ideen und ebenso viele Versäumnisse.
Am Ende dominierte die Spekulation. So hat jeder zu dem Bild beigetragen, auf das Grosse nun mithilfe ihrer Malerei hinweist – jene letzte undefinierte Fläche zwischen Hamburger Bahnhof und den knapp 300 Meter langen Rieck-Hallen, die sich in absehbarer Zeit ebenfalls städtebaulich ordnen wird.
Diese Kunst ist einfach mitreißend
Noch aber herrscht ein Quantum Offenheit, das die Künstlerin für sich und ihr Publikum besetzt. Letzteres braucht für den Außenraum nicht einmal ein Ticket, sondern kann die Arbeit jederzeit aufsuchen. Eine anarchische Komposition aus Wirbeln, Schraffuren und Farbclustern, die das abstrakte Gemälde ins Museum ausdehnt und von dort in den öffentlichen Raum hinaustreibt.
Auf den ersten Blick reißt einen dieses Arrangement automatisch mit. Ohne dass man sich gegen die Form- und Farbgewalt wehren kann. Ein Vorwurf, den man Grosse häufiger macht. Und doch liegt ihr kaum etwas ferner als der Versuch einer unreflektierten Überwältigung.
Im Gegenteil: Je mehr Fläche ihr Werk einnimmt, desto stimmiger wirkt es im Detail. Wer die einzelnen Zonen abwandert, der entdeckt subtile Dialoge. Es ist, als würde man im Bild umherspazieren, zwischen Formen und Farben wandern, um immer neue Bezüge herzustellen.
„Selbst zum Maler werden“, nennt die Künstlerin ihren Versuch, andere am eigenen Arbeitsprozess teilhaben zu lassen. Ein Riesenprojekt wie dieses wäre eigentlich Anlass für eine Retrospektive, sinniert sie weiter. Viel mehr habe sie jedoch eine Zusammenschau all der künstlerischen Möglichkeiten interessiert, die sie sich über die Zeit angeeignet habe. Das Ergebnis überzeugt auf jedem Quadratmeter.
Hamburger Bahnhof , ab Sonntag, 14. Juni, bis 10. Januar, Di - Fr 10 -18 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Tickets müssen im Voraus gebucht werden, hier auf der Webseite des Museums.
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