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Eigenwillig: Die Architektur der Stettiner Philharmonie ist höchst originell, sucht aber in Sachen Blockrand und Traufhöhe den Dialog mit der Nachbarschaft.
© Imago

Neue Stettiner Philharmonie: Die Stadt leuchtet

Architektur und Akustik: Im polnischen Stettin heilen die Wunden des Krieges nur langsam. Mit der neuen Philharmonie ist nun ein neues Schmuckstück der Hafenstadt entstanden.

Es gibt noch viel zu tun in Szczecin, der westlichsten Großstadt Polens. Altstadt und Hafen der vorpommerschen, noch immer deutsch geprägten Hafenstadt Stettin an der Odermündung waren im Krieg weitgehend zerstört worden; der Wiederaufbau in den fünfziger Jahren tat ein Übriges. Heute bietet das von den weitgehend intakt gebliebenen Gründerzeitvierteln umgebene Zentrum ein zerrissenes Bild. Der sozialistische Städtebau konnte mit den historischen Relikten nichts anfangen, und so stehen Plattenbau und Spätgotik beziehungslos beieinander. Eine breite Verkehrsschneise, euphemistisch Trasa Zamkowa (Schlosstrasse) genannt, zerschneidet die Innenstadt. Das Herzogschloss, die Jakobikirche und einige andere historische Gebäude wurden wieder aufgebaut, der Heumarkt am Alten Rathaus mit postmodernen Häusern reanimiert.

Eine strahlende Stadtikone neben dem düster neogotischem Polizeipräsidium

Nur langsam heilen die Wunden des Kriegs und des Wiederaufbaus, setzt sich bei den Planern stadträumliches Denken durch. Und nun dieser Glücksfall einer neuen Philharmonie! Sie steht am nördlichen Rand der Altstadt, wo schon vor dem Krieg ein Konzerthaus aus wilhelminischer Zeit gestanden hatte. Entworfen haben das Gebäude die jungen Architekten Fabrizio Barozzi und Alberto Veiga aus Barcelona. Im Jahr 2007 konnten sie den internationalen Architektenwettbewerb für sich entscheiden und taten sich für das 35-Millionen-Projekt mit dem Stettiner Architekten Jacek Lenart vom Studio A4 zusammentaten.

Es ist ein Leuchtturmprojekt im Wortsinn. Neben dem düsteren neogotischen Polizeipräsidium präsentiert sich der expressionistische Neubau als strahlende Stadtkrone – vor allem wenn er bei Dunkelheit mit Hilfe tausender LEDs transluzent von innen leuchtet. Ein signature building also, das durch das gleißende, monochrome Weiß sofort ins Auge springt. Zugleich bleibt es im Dialog mit der Umgebung, schließt artig den Blockrand, beherzigt die nachbarlichen Traufhöhen und reflektiert durch seine Baugliederung die Struktur der nahegelegenen Altstadt. Wie eine Herde drängen sich seine weißen Giebel eng aneinander.

Keine Fenster, nur Zenitlicht fllutet die Räume

Seine auratische Erscheinung erschließt sich auch daraus, dass der verheißungsvoll schimmernde Bau jegliche Beziehung zwischen Innen und Außen verweigert. Keine Fenster, keinerlei Schaufensterfront. Wer dann durch den schlichten Eingang ins Haus tritt, sieht sich von der den Blick nach oben reißenden Aufweitung der haushohen Foyerhalle überrascht. Ein monumentaler Treppenlauf zur Linken und eine skulpturale Wendeltreppe zur Rechten prägen den nur über die Glasdächer mit Zenitlicht gefluteten weißen Allraum – ein beeindruckendes Architekturerlebnis vor dem eigentlichen Musikgenuss.

Der Kammermusiksaal mit 240 Plätzen und der große Saal mit knapp 1000 Plätzen zeichnen sich nach außen nicht ab, sondern „schwimmen“ im Volumen des Gebäudes. Beide sind rechteckig und mit geraden Sitzreihen nach dem Vorbild des Wiener Musikvereins konzipiert. Anthrazitfarben fokussiert der kleinere „Mondsaal“ alle Konzentration auf die Musiker. Mit schwarzem Gestühl und güldenen Wänden und Decken (täuschend im Blattgold-Look verarbeitete Bronze) bietet der große „Sonnensaal“ dagegen das festliche Ambiente für große Orchester. Expressiv gefaltete Paneele sorgen für den vom Akustiker Higini Arau (Barcelona) konzipierten Raumklang – erste Liga unter den europäischen Konzertsälen. Die obere Foyerebene wird als Ausstellungsbereich regelmäßig von einer örtlichen Galerie bespielt und vermittelt Kunstgenuss in der Konzertpause.

Das Musikleben der Stadt erlebt einen enormen Aufschwung

Über 200 000 Besucher zählte das Haus seit der Eröffnung im September vergangenen Jahres, die Veranstaltungen sind durchweg ausverkauft. Das Musikleben der Stadt hat einen enormen Aufschwung genommen, zu verdanken auch der musikalischen Direktorin des Orchesters Mieczyslaw Karlowicz der Philharmonie Stettin, Ewa Strusinska. So wurde die Philharmonie für Stettin und die Grenzregion polnisches Westpommern und deutsches Vorpommern zur echten Erfolgsgeschichte.

In diesen Wochen richtete sich erneut internationale Aufmerksamkeit der Branche auf das Gebäude: Den Architekten wurde der mit 60 000 Euro dotierte Preis der Europäischen Union für zeitgenössische Architektur zuerkannt – der renommierte Mies van der Rohe Award.

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