Usedomer Musikfestival: Auf gute Nachbarschaft
75 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und 10 Jahre nach dem EU-Beitritt Polens feiert das Usedomer Musikfestival die deutsch-polnischen Beziehungen.
Die Zeit der Kontrollen ist längst vorbei. Auf der Zweiländerinsel Usedom ist innerhalb des vergangenen Jahrzehnts vieles zusammen gewachsen. Als ein Brückenbauer und kulturpolitischer Motor erwies sich dabei das Usedomer Musikfestival. In diesem Jahr bekräftigte es dies erneut - mit dem passend zu den Jubiläen gewählten Länderschwerpunkt Polen. Dessen Musikerbe vor, nach und mit Chopin stand im Fokus. Rund 14 000 Besucher erlebten innerhalb von drei Wochen 40 Konzerte, Lesungen und Ausstellungen zwischen Wolgast und Swinoujscie.
Der polnische Botschafter Jerzy Marganski erinnerte am Auftaktabend in der Turbinenhalle des einstigen Kraftwerks Peenemünde an die Ängste auf beiden Seiten der Oder vor dem Beitritt Polens in die Europäische Union. Seitdem werde die gegenseitige Verbundenheit der beiden Länder gelebt. „Das Usedomer Musikfestival ist dabei ein untrennbares Element“, sagte Marganski. 2014 könne Polen im Spiegel der Musik betrachtet werden. „Wir profitieren von der wachsenden Normalisierung und der gemeinsamen Zukunft“, äußerte Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering. Er machte auf die gute Nachbarschaft zwischen Mecklenburg-Vorpommern und der der Wojewodschaft Westpommern aufmerksam. „Stettin ist das urbanes Zentrum dieser Region. Diese Betrachtung ist heute völlig normal“, so Sellering.
Das Baltic Sea Youth Orchestra begeistert in Peenemünde
Selbstverständlich ist mittlerweile auch die Eröffnung des Usedomer Musikfestival mit dem Baltic Sea Youth Philharmonic (BYP) unter der Leitung seines Gründungsdirigenten Kristjan Järvi in Peenemünde geworden. 2002 legte Mstislaw Rostropowitsch mit seiner Aufführung von Benjamin Brittens „War Requiem“ den Grundstein für die Reihe der Peenemünder Konzert an der historisch ambivalenten Stätte. Auf gemeinsame Initiative des Usedomer Musikfestivals und der Nord Stream AG entstand vor sechs Jahren das BYP als ein Sinfonieorchester bestehend aus rund 100 jungen Musikern aus den Musikhochschulen der Ostseeanrainerstaaten Dänemark, Norwegen, Finnland, Rußland Estland, Litauen, Polen und Deutschland. Dank seiner übersprudelnden Energie, gewinnenden Leidenschaft und ungebändigter Spielfreude machte es sich innerhalb kürzester Zeit in Deutschland, Estland, Litauen, Rußland und Schweden auf sich aufmerksam. Auf Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel gastierte der Klangkörper 2012 beim Ostseeratsgipfel in Stralsund. Nach der Eröffnung des Baltikumschwerpunkts des Schleswig-Holstein Musik Festival im Sommer des letzten Jahres erfolgte am 22. Januar das Debüt in der Berliner Philharmonie.
Der Pianist Jan Lisiecki beeindruckte mit Edvard Griegs Klavierkonzert, verzichtete allerdings trotz des langen Applauses auf eine Zugabe. Nach Wojciech Kilars „Orawa“ setzt Kristjan Järvi bei Johannes Brahms 2. Sinfonie mehr auf Tempo als auf ausbuchstabierte Schwelgerei, um die Zuhörer mit einer berauschenden Zugabenserie in die Nacht zu entlassen.
In dem bis auf dem letzten Platz gefüllten Saal des Heringsdorfer Hotels Steigenberger las Andrzej Szpilman aus den von Roman Polanski im Film „Der Pianist“ auf die Leinwand gebrachten Memoiren seines Vaters Wladyslaw Szpilman. Die Pianistin Ewa Kupiec flocht dazu dessen Concertino, die Suite „Das Leben der Maschinen“ sowie eine Mazurka in ihre Chopinauswahl ein. Bedauerlich, dass sich die Aufmerksamkeit allein auf die Schicksalsjahre im Warschauer Ghetto richtete. Nötiger wäre die Darstellung von Wladyslaw Szpilmans Rolle beim Wiederaufbau der polnischen Musikkultur nach 1945 gewesen. Ein Detail bei der Begegnung von Wladyslaw Szpilman und dem deutschen Offizier Wilm Hosenfeld im Warschauer Ghetto ist Andrzej Szpilman wichtig: „Diese Szene hat im Leben und im Film fraglos eine besondere Bedeutung. Viele wissen nicht: Mein Vater mußte bei ihrem Aufeinandertreffen im Herbst 1944 nicht um sein Leben spielen. In jenem Moment war er außer Gefahr. Das zeigt Polanski nicht. Der deutsche Offizier war auf der Suche nach Zahnpasta und fand meinen Vater in der Küche des Hauses vor. Wim Hosenfeld lebte in einer anderen Welt. Daran änderte seine Uniform nichts. Dieser Mann hat während des Zweiten Weltkrieges vielen Menschen geholfen.“
Eine Ausstellung über "Musik im okkupierten Polen"
Berührende Hintergründe zu dieser Zeit lieferte die Ausstellung „Musik im okkupierten Polen“ auf dem Museumsgelände in Peenemünde. Erstmals seit 75 Jahren vermittelte diese 40 Tafeln sowie Film und Audiostationen umfassende Präsentation die vielgestaltige Musikkultur Polens und deren gezielte Zerstörung durch das nationalsozialistische Deutschland. Für Krakau, Warschau, Lodz und Lemberg taten sich sorgfältig recherchierte Momentaufnahmen auf. Ein zweites Augenmerk lag auf den Konzentrationslagern. Dank der Musik überlebte beispielsweise der Komponist Simon Laks (1901 – 1983) Auschwitz. „Das Material ist längst nicht erschöpft“, erzählte deren Mitinitiator und Musikverleger Frank Harders-Wuthenow von Boosey&Hawks. In Marseille, Berlin, Hamburg und beim Schleswig-Holstein Musik Festival hatte diese Wanderausstellung bereits ihre Öffentlichkeit. „Peenemünde ist der perfekte Ort und dies gilt auch für den diesjährigen Festivalspielplan“, so der Ausstellungsmacher. Denn das Usedomer Musikfestival stellte 2014 mit Wojciech Kilar, Wladiyslaw Szpilman, Mieczyslaw Weinberg oder Andrzej Panufnik prägende und heutzutage wieder geschätzte polnische Persönlichkeit vor.
Der Ausklang der Musiklandsaison Mecklenburg-Vorpommerns im Peenemünder Kraftwerk ist eine Tradition. „Musik ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und Motor für den Tourismus in Mecklenburg-Vorpommern geworden“, sagte Thomas Hummel als Koordinator des Musiklandes MV. Dies sei nur durch die Zusammenarbeit zwischen den Festivals Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, der Greifswalder Bachwoche, dem Schönberger Musiksommer, dem Brücken-Festival für neue Musik in Mecklenburg-Vorpommern, dem Eldenaer Jazz Evenings, dem Neubrandenburger Jazzfrühling, See more Jazz Rostock und dem Usedomer Musikfestival möglich geworden. Eine Botschaft des Friedens sollte dieser Abend zudem aussenden. „Heute tun wir etwas, was bis 1945 hier undenkbar war. Die Nationalsozialisten wollten Chopin aus der polnische Kultur tilgen. Dies ist nicht gelungen.“, so Hummel. Als ein exzellenter Chopininterpret zeigte sich Ingolf Wunder beim Klavierkonzert in e-Moll op. 11. Als kongeniale Partner erwiesen sich das NDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Michal Nesterowicz. Letztere begeisterten zudem mit Mieczslaw Weinbergs 4. Suite aus der Ballettmusik „Der goldene Schlüssel“ und Witold Lutoslawskis Konzert für Orchester.
Mit dem Auftritt Krzysztof Pendereckis am 10. Oktober in Swinoujscie ging für den Stadtpräsidenten Janusz Zmurkiewicz ein Traum in Erfüllung. 2003 erlebte er den international geschätzten Komponisten und Dirigenten bei der Aufführung seines Credos beim 2. Peenemünder Konzert. Cornelia Pieper hob als Generalkonsulin der Bundesrepublik Deutschland in Danzig den Rufs Pendereckis in Europa und in der Welt hervor. Zugleich nutzte sie die Gelegenheit, um die Verdienste seiner Frau Elzbieta Penderecka auf dem musischen Gebiet innerhalb der deutsch-polnischen Beziehungen herauszustellen. Anschließend erhielt der Hornist Felix Klieser den mit 7000 Euro dotierten diesjährigen Usedomer Musikpreis und erfreute mit der Sinfonia Varsovia unter der Leitung von Arman Tigranyan mit Alexander Glasunows „Idyll“ und Wolfgang Amadeus Mozarts Es-Dur-Konzert KV 495. Packend gestaltete das diesjährige Orchester in Residence des Usedomer Musikfestivals Henryk Goreckis „Drei Stücke im altem Stil“ sowie die Chaconne und die Sinfonietta per archi ihres künstlerischen Leiters Krzysztof Penderecki.
Penderecki setzte mit der Darbietung seiner zweiten Sinfonie in Peenemünde einen würdigen Schlußpunkt. Der erste Beifall allerdings gehörte Kurt Masur, dem Ehrenschirmherr des Usedomer Musikfestivals. „Ich bin tief bewegt, was sich hier entwickelt hat“, äußerte er vor rund eintausend Versammelten über das 21-jährige Bestehen des Festivals. Cornelia Pieper dankte Polen für die Zivilcourage, der Solidarität und die Solidarnosc, die die friedlichen Demonstrationen in Leipzig im Oktober 1989 befördert hätten und benannte dabei Kurt Masurs Rolle.
Uwe Roßner