Ungarn und die Flüchtlinge: Die Stacheln des Igels
Hass und Hilfsbereitschaft: Im Umgang mit den Flüchtlingen hat Ungarn zwei Gesichter. Das hat auch mit einer Seelenlage zu tun, die das Land seit einer halben Ewigkeit prägt.
Im September sind die Abende in Budapest oft noch schwül. Wer um 21 Uhr am Budapester Bahnhof Keleti aus der U-Bahn steigt, dem weht ein süßlich-fauliger Geruch entgegen. Seit Tagen warten hier in der Bahnhofsunterführung zweitausend Flüchtlinge darauf, nach Deutschland weiterreisen zu dürfen. In bunten Zelten und auf Pappkartons harren sie aus, unter ihnen Alte, Frauen, Kinder, ganze Familien aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. An der Wand ein Schriftzug: „Help us, Angela Merkel. We want to go to Germany.“
Die Reaktionen der Budapester sind gespalten: Mitgefühl und Hilfsbereitschaft unabhängig von der eigenen Situation – oder Angst, Empörung und Hass: Gefühle, die in der ungarischen Seele tief verwurzelt sind. Viele glauben, sich gegen fremde Mächte verteidigen zu müssen, weil das Land seit tausend Jahren vermeintlich auf sich allein gestellt ist und auch die Geschichtsbücher darauf ausgelegt sind, sich als Opfer zu definieren.
Der Ort heißt offiziell Transitzone: Hier sind die Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Ungarn bis zu ihrer Weiterreise untergebracht. Aber es ist eben nur eine Unterführung, mit acht Toiletten und zwei Duschen. In einem kleinen Lagerraum arbeiten die freiwilligen Helfer von der Facebook-Gruppe „Migration Aid“. Sie verteilen Essen und Schlafsäcke, organisieren Übersetzungen ins Arabische, in Urdu, Farsi oder Paschtu.
Die Idee der Transitzone ist aus der Not entstanden. Seit dem Sommer campieren Tausende von Flüchtlingen vor den Bahnhöfen Budapests und in den Parks. An der serbisch-ungarischen Grenze greift die Polizei sie auf und transportiert sie zur Einwanderungsbehörde. Diese händigt ihnen auf Ungarisch verfasste Dokumente aus und schickt die Ratlosen weiter in die Camps, mit einer schlechten Skizze als Wegbeschreibung. Das rein Bürokratische passt zu der Mentalität, die von der Politik verbreitet wird: Endlich treffen die Opfer auf noch Schwächere.
Menschenschlepper bieten den Orientierungslosen, die der ungarische Staat im Stich gelassen hat, ihre Dienste an. Zugleich haben sich tausende Bürger und Künstler auf Facebook organisiert, um Grundlegendes wie Nahrung und Getränke zu beschaffen und eine humanitäre Katastrophe zu vermeiden. Die größte Gruppe, „Migration Aid“, hat über 9000 Mitglieder. Zu den Aktivisten gehört auch der Filmemacher Benedek Fliegauf, der 2012 auf der Berlinale für seinen Film „Just the Wind“ über ein Pogrom gegen ungarische Roma mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde.
In der Facebook-Gruppe „PlayDays – Programme für Flüchtlinge“ ruft er gezielt auch Künstler und Intellektuelle auf, an den Bahnhöfen Präsenz zu zeigen. Einige Schauspieler und Sänger halfen inkognito, etwa indem sie mit den Flüchtlingskindern spielten. Fliegauf postet: „Dieses Land ist nicht nur der Grenzzaun. Wir Künstler können mit unserer Kunst den Flüchtlingen etwas schenken und Stellung nehmen – wir wollen nicht, dass diese Menschen so behandelt werden. Seit der Romamordserie habe er nichts mehr so dringend tun wollen: „Das Thema hat mein Leben verändert.“ Auch einen Spielfilm will er nun drehen.
Die Schauspielerin Dorka Gryllus, die in der kürzlich in Deutschland gestarteten Komödie „Die Kleinen und die Bösen“ mitspielt, engagiert sich ebenfalls. Die deutschen Medien verbreiteten ein völlig falsches Bild über Ungarn, meint sie. In Berlin habe sie sagen hören, dass man sich dafür schämen müsse, Ungar zu sein. Deutschland mache es sich zu leicht, wenn es mit den Fingern auf Ungarn zeige, die Flüchtlingskrise sei schließlich ein gesamteuropäisches Problem. Und obwohl es sonst richtig sei, als Prominenter inkognito zu helfen , „müssen wir jetzt mit unseren Namen in die ungarischen und europäischen Medien gehen, um zu zeigen: Hier leben nicht nur Rassisten!“ Das Zwischen-den-Zeilen-lesen-Können, die politische Macht austricksen zu wollen, das gehörte schon zu einem widerständigen Bewusstsein, das Ungarn zuzeiten des Kommunismus prägte. Auch der Pester Humor und der Mut, mit dem 1989 die Grenzen geöffnet wurden, sind Qualitäten, die sich bis heute gehalten haben.
Die Petition gegen Orbán hieß "Nicht in meinem Namen"
Nicht in meinem Namen, hieß die Petition gegen die Regierung Orbán. Am 2. September zogen tausende Ungarn vor das Budapester Parlament. Dorka Gryllus tauschte ihr Profilfoto gegen die Parole „Not In My Name“ aus. Es nützte nichts, am 4. September wurden die Flüchtlingsgesetze der rechtskonservativen Fidesz-Regierung weiter verschärft.
Die Stimmungsmache gegen die Flüchtlinge hatte bereits im Frühjahr mit einem Fragebogen zu „Einwanderung und Terrorismus“ begonnen, den die Regierung an die Bürger verschickte. Eine der Fragen lautete: „Wollen Sie, dass die Regierung lieber den ungarischen Familien und deren Kindern hilft oder den Flüchtlingen?“ Heute beruft sich die Regierung auf die Ergebnisse der Umfrage, wenn sie behauptet, Ungarn müsse verteidigt werden, weil die europäische Einwanderungspolitik gescheitert sei und die Mehrheit der Ungarn die sogenannten illegalen Einwanderer schnellstmöglich wegschicken wolle.
Ungarns Gesellschaft war immer recht homogen, sagt der Soziologe Endre Sík, dieses historisch-kulturelle Erbe wird aber von der Fidesz- Regierung auf gefährliche Art instrumentalisiert. Auf die nationale Umfrage folgte Anfang Juni eine Plakatkampagne, die Flüchtlinge auf Ungarisch aufforderte: „Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn die Arbeit nicht wegnehmen!“ Hunderte reagierten mit zivilem Ungehorsam und rissen die Plakate ab. Die Satire-Partei „Ungarischer Hund mit zwei Schwänzen“ und der Blog „Dicke Haut“ starteten eine Spendenaktion für eine Gegenkampagne. „Sorry about our Prime Minister“ stand auf ihren Plakaten.
Als die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan dramatisch anstieg, kündigte die Regierung schließlich die Errichtung des Grenzzauns an. Neben dem Bürgerengagement gegen die xenophoben Botschaften von Fidesz und einigen Demonstrationen gegen den Zaun gab es in den Reihen der politischen Gegner Viktor Orbáns auch Befürworter des Vorhabens. Der Schriftsteller György Konrád, von 1997 bis 2003 Präsident der Akademie der Künste in Berlin, warnte davor, Viktor Orbáns Ideen als dumm abzutun. Der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ sagte er, auch wenn Orbán eine gefährliche autoritäre und antidemokratische Politik betreibe, habe er recht damit, die Grenzen von Schengen „vor diesem Tsunami“ zu verteidigen. Statt Ungarn anzuprangern, sollten die Kritiker aus Deutschland und Europa lieber über die spezifische Lage des Landes nachdenken.
Anderen Kulturschaffenden geht die Flüchtlingspolitik wiederum so sehr gegen den Strich, dass sie das Land am liebsten verlassen möchten. „Ich fliehe mit ihnen“, heißt eine von Schauspielern organisierte Protestveranstaltung mit Lesungen und Diskussionen an diesem Wochenende. Auch Róbert Alföldi, der ehemalige Direktor des Budapester Nationaltheaters, nimmt daran teil.
Die Fidesz-Regierung bringt die Flüchtlingskrise auch in Zusammenhang mit den Minderheiten im eigenen Land. Ende Mai hatte Justizminister László Trócsányi in Reaktion auf die Flüchtlingswelle aus dem Kosovo betont, die Regierung Orbán könne „schon deshalb keine Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen, weil sie sich um den gesellschaftlichen Anschluss von 800 000 Zigeunern kümmern muss.“ Und kürzlich beteuerte der Premier: „Die Ungarn leben seit Jahrhunderten mit einigen Hunderttausenden Roma zusammen. (...) Und wir haben die EU nicht darum gebeten, diese in Europa zu verteilen.“
Eine zynische Äußerung. Endre Sík warnt denn auch davor, Parallelen zwischen dem Umgang mit Minderheiten und der Behandlung der Flüchtlinge in Ungarn zu ziehen. Bis heute habe keine ungarische Regierung die Integration der Roma ernsthaft in Angriff genommen. Es fehle eine langfristige, konsequente, generationsübergreifende Begleitung und Förderung der Roma.
Das Minderheiten-Thema war in Ungarn schon immer wichtig. Allerdings, so Sík, ging es immer um die ungarischen Minderheiten, die seit dem Vertrag von Trianon 1920 in jenen Territorien leben, die das Land an die Nachbarländer verloren hat. Der Schock, den Ungarn durch die Flüchtlingskrise erlebt, kann auch zu einer Chance werden. Er kann dazu anspornen, endlich Abschied von der Opferrolle zu nehmen und die Situation human, als Teil von Gesamteuropa zu lösen – oder den rechtsnationalen Geist im Lande weiter zu stärken und Ungarn zum Igel Europas werden zu lassen.
Anna Frenyó