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Die Zeitschrift "Osteuropa" über die Lage in Ungarn: Tristesse in Orbánistan

Mit politischer Vernunft allein lässt sich Ungarns schleichender Umbau von der parlamentarischen Demokratie zum autoritären Regime nicht begreifen. Was Ministerpräsident Viktor Orbán dabei treibt, versucht nun die Monatszeitschrift "Osteuropa" zu ergründen.

Politisch wäre es am einfachsten, man könnte Viktor Orbán zu Europas Kim Jong-il erklären. Die möglichen Maßnahmen, vom Isolieren bis zum Intervenieren, stünden viel eher fest. Doch das würde nicht nur die Maßstäbe verzerren, nach denen etwa Weißrusslands Diktator Alexander Lukaschenko sein Land drangsaliert. Es würde vor allem die subtile Unheimlichkeit verfehlen, mit der Ungarns Ministerpräsident und seine nationalkonservative Partei Fidesz, von einer Zweidrittelmehrheit befeuert, die parlamentarische Demokratie eines EU-Landes zum autoritären Regime umbauen. Was sich dagegen ausrichten lässt, wissen nicht einmal die Ungarn so richtig, die gegen ihn auf die Straße gehen. Die Opposition steht vor der schwierigen Aufgabe, sowohl eine ebenso charismatische Figur wie Orbán hervorzubringen, als auch gegen ein diffuses Feld antiwestlicher Stimmungen anzugehen, die sich in ihm materialisiert haben.

Die Ratlosigkeit geht so weit, dass die Budapester Schriftstellerin und Amerikanistin Zsófia Bán in der Zeitschrift „Osteuropa“ (www.osteuropa.dgo-online.org) darüber nachdenkt, sich einer hungarisierten Form des hüzün hinzugeben, jener Tristesse, die Orhan Pamuk als kollektive Grundstimmung einer Türkei beschrieb, die im Angesicht ihrer eigenen Unzulänglichkeit geradezu melancholisch werden müsse. Mehr als das: Es gelte, schreibt Bán in Anlehnung an einen Begriff des englischen Romantikers John Keats, eine „negative Befähigung“ zu entwickeln, die einem das standhafte Ausharren in einem Zustand der Unsicherheit erlaube, die nicht ständig den Grund der Vernunft suche.

Vielleicht ist das aber schon vernünftiger als ein Fatalismus, der sich selbst gar nicht mehr begreifen will. „Quo vadis, Hungaria? Kritik der ungarischen Vernunft“ (432 Seiten, 24 €) ist auch jenseits seines puren Umfangs ein starker Versuch, Boden unter die Füße zu bekommen. Ein Dossier zur Lage der Magyaren, ja ein Handbuch mit Karten, Grafiken und Statistiken, das die Probleme in allen gesellschaftlichen Bereichen durchdekliniert. Es geht um die neue Verfassung, deren Fragwürdigkeit viel weniger Schlagzeilen machte als der Skandal um das Mediengesetz, es geht um die Erinnerungskultur in Bezug auf König, Kriege und Vaterland, das Verhältnis zu den Roma und die desolate Wirtschaftslage.

Krisztina Koenen zeichnet nach, wie sich die liberale Weltsicht des „Viktátors“ – er hatte mit einem Stipendium der Soros-Stiftung in Oxford studiert – in Richtung eines antikapitalistischen Kulturpessimismus verschob, der die Rettung vor dem Verfall allein in der Abschottung sieht und seine Wähler ständig vor Invasion des westlichen Konsumismus warnt, dessen merkantile Zeichen das Straßenbild seit langem prägen. Orbán, so Koenen, sehe nichts als „Feinde, überall Feinde“: Sein „Bild vom kleinen, geknechteten Ungarn, das es zur Not mit der ganzen Welt aufnimmt, ist im Land populär, weil es die Opferhaltung mit Größenwahn verbindet.“

Er lässt das ganze 20. Jahrhundert im Interesse nationaler Selbstermächtigung neu interpretieren. Balász Ablonczy weist hin auf das Trauma von Trianon, jenen Friedensvertrag von 1920, in dessen Folge Ungarn zwei Drittel seines Gebietes abtreten musste und 3,2 Millionen Magyaren zu rumänischen oder (tschecho-)slowakischen Bürgern wurden. Und Krisztían Ungváry erklärt, wie der siebenbürgische Schriftsteller Albert Wass (1908-1998), ein königstreuer Antisemit und verurteilter Kriegsverbrecher, nach 1989 allein 49 Denkmäler bekommen konnte und Bibliotheken nach ihm benannt werden. Aufschlussreich auch, wie Orbán die Staatskunst mit 15 Auftragsgemälden zu Schlüsselmomenten der ungarischen Geschichte belebte. Welche Scheußlichkeiten entstanden, zeigen einige Beispiele.

Wieviele miteinander verbundene und unverbundene Gleichzeitigkeiten, welche „Parallelgeschichten“ kommen hier zum Tragen, um den von Zsófia Ban erwähnten, soeben auf Deutsch erschienenen Großroman von Péter Nádas ins Spiel zu bringen. Die historisch-analytische Ergänzung liefert Nádas in der aktuellen Ausgabe von „Lettre International“ (www.lettre.de) mit seiner Sicht vom „Stand der Dinge“. In einem langen Essay erklärt er, „warum der Versuch einer dritten Modernisierung Ungarns nicht gelungen ist“.

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