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Anhänger von Viktor Orbán demonstrieren zum Nationalfeiertag am 23. Oktober auf der Budapester Margaretenbrücke.
© AFP

Kultur in Ungarn: Durchs wilde Amnesistan

Das Land Ungarn scheint derzeit zwischen galoppierender Geschichtsvergessenheit und historischen Traumata zerrieben zu werden. Eine Schriftstellerdiskussion in der Berliner Akademie der Künste.

„Meine süße Heimat“ heißt die Gedichtanthologie, die vor einem Jahr in Ungarns angesehenstem Verlag Magvetö erschien und seither den alten Kampf zwischen autonomer und engagierter Kunst neu befeuert. Wer angesichts des Titels nationales Pathos erwartet, wie es seit dem Wahlsieg von Viktor Orbáns Fidesz-Partei im Jahr 2010 dickflüssig aus öffentlichen Reden bis in die hintersten Hinterzimmer tropft, liegt allerdings nicht nur im konkreten Fall falsch. Vom Volksdichter Sándor Petöfi, der die Revolution 1848 geistig anführte und der noch als Held des Sozialismus durchging, bis zu György Petri, der den Schock von 1956 so zu verlängern wusste, dass er in den Triumph von 1989 mündete, gibt es eine lange Linie politikbewusster Lyrik, die ihre Kunst nicht verraten muss, um die Wirklichkeit zu erfassen.

Davon lebt auch diese Sammlung. Sie enthält Texte aus den letzten 20 Jahren – und teils raffiniert ironisierte Bitternis. „Einst war ich ein Ungar“, schreibt Péter Demény, „aber nun bin ich eine Ungaruine / ich trianonisiere statt zu leben“. Das versteht hierzulande nicht gleich jeder. Denn die Deutschen haben die Demütigung, die sie nach dem Ersten Weltkrieg durch den Vertrag von Versailles erlitten, längst verarbeitet. Die Ungarn, die infolge des Vertrags von Trianon zwei Drittel ihres Territoriums an die Nachbarn abtreten mussten, lecken noch immer ihre Wunden. Und die Rechten und Rechtsradikalen von der „Jobbik“-Partei reißen sie täglich neu auf.

Aber wie soll man die magyarischen Verhältnisse überhaupt verstehen: das leise Gift, mit dem man „Fremdherzige“ bedenkt, die antieuropäischen Sticheleien, die antisemitischen Hassgesänge, das Machtstreben des Ministerpräsidenten – und die fatale Komik, die in all den aufgeplusterten Reden auch noch steckt?

In der Außenbetrachtung wird gerne eine neue Diktatur heraufbeschworen, die mit eiserner Hand die letzten Reste liberalen Denkens hinwegfegt. Von innen fühlt sich die kulturelle Ausblutung sehr viel unheimlicher und ungreifbarer an, wie die Schriftsteller László F. Földenyi, Gábor Németh und Lajos Parti Nagy am Donnerstagabend in der Berliner Akademie der Künste in einer Diskussion unter Leitung von Lothar Müller betonten. Denn das eine sind die internen Scharmützel und kulturbetrieblichen Jagdveranstaltungen auf Intellektuelle, denen es angeblich an „ungarischer Schaffenskraft“ gebricht, wie sie die Anfang der 90er Jahre installierte und mit Staatsgeldern opulent ausgestattete neue Kunstakademie fordert. Das andere ist, dass harte öffentliche Sanktionen nur als vage Drohung über allem schweben. „Wir wissen nicht, dass irgendetwas tatsächlich verboten wäre“, sagt Parti Nagy mit Blick auf Orbáns Mediengesetz. „Seitdem hat nur kein Sender mehr den Mut, einen von uns einzuladen.“

Németh fällt dazu István Eörsis noch vom Anfang der 90er Jahre stammender Vorschlag ein, endlich wieder die Zensur einzuführen. Dann wisse man wenigstens, woran man sei. Das jetzige Spiel sei viel komplizierter. Dazu gehört auch die fehlende Substanz der rechtskonservativen Rhetorik, die durch vielerlei staatsmännische Äußerungen wabert. In Ungarn, so Németh, lese niemand Ernst Jünger oder Carl Schmitt. Tatsache ist allerdings, dass man die Rechtsextremen aus wahltaktischen Gründen gewähren lässt.

Wenn sie, angetan mit Naziuniform, in der heutigen Budapester Béla-Bartók-Straße für die dortige Errichtung eines Denkmals für Reichsverweser Miklós Horthy demonstrieren – keine offizielle Reaktion. Der Komponist hatte vor seiner Auswanderung in die USA testamentarisch verfügt, dass weder Straßen noch Plätze nach ihm benannt werden dürften, solange für sie auch Hitler und Mussolini als Namensgeber fungierten.

Ungarn scheint zwischen galoppierender Geschichtsvergessenheit – Németh erklärt sein Land zu „Amnesistan“ – und historischen Traumata zerrieben zu werden. Diese seien, wie Földenyi erklärt, im Übrigen auch an reale Erfahrungen geknüpft. Es gebe heute noch keine Familie, die die Folgen von Trianon nicht zu spüren bekommen hätte. Für namhafte Autoren wie Dezsö Kostolányi, Béla Hamvas oder Sándor Márai waren sie ein Stoff.

Daneben sind Rechnungen aus sozialistschen Zeiten offen. Erst kürzlich machte der Dichter János Csontos in der Fidesz-nahen Tageszeitung „Magyar Nemzet“ seinen Kollegen Parti Nagy, Péter Nádas und Péter Esterházy den haltlosen Vorwurf, sie seien einen Geheimpakt mit dem Kádár-Regime eingegangen, um sich Publikationsmöglichkeiten zu sichern. Schließlich kommen neue Angriffe dazu. G. Fodor Gábor, strategischer Direktor des regierungsnahen Századvég-Instituts, forderte in seinem Blog den Schriftsteller László Krasznahorkai auf, sich doch die Kugel zu geben, statt weiter apokalyptische Texte zu schreiben.

Bis zu den Wahlen im April 2014 hat sich Parti Nagy nun auferlegt, wöchentlich bitterböse Glossen im Märchenton zu veröffentlichen. Dass sie Viktor Orbán vom Thron zu stoßen vermögen, ist aus vielen Gründen unwahrscheinlich. Er hat seine Anhänger noch nicht verloren. Und was versprach er ihnen am Nationalfeiertag? „Wir nähern uns der wahren Befreiung, unserer alltäglichen Freiheit.“

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