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Am Anhalter Bahnhof in Berlin im Sommer 1945.
© aus „1945 – Ikonen eines Jahres“, Schirmer/Mosel. Leonhard McCombe/Life Magazine/The LIFE Images Collection/Getty Images

70 Jahre Kriegsende: Die Sonne scheint, es ist Frühling

Berlin liegt in Asche, in Köln gibt es nur noch 300 Wohnungen, Rotarmisten klauen Fahrräder, und in Dachau stehen Güterwagen voller Leichen: Impressionen von Erich Kästner, Hildegard Knef, Martha Gellhorn und anderen Autoren aus den Wochen nach dem 8. Mai 1945.

PLÖTZLICH STILLE

Am 4. Mai trat Ilse Antz aus dem Keller ihres Hauses in Wilmersdorf und erblickte zum ersten Mal seit dem 24. April wieder das Tageslicht. Es war still in den Straßen. „Zuerst sah ich in der ungewohnten Helligkeit nichts als schwarze Kreise vor den Augen“, berichtet sie. „Dann schaute ich mich um. Die Sonne schien, es war Frühling geworden. Die Bäume blühten, die Luft war mild. Selbst diese gepeinigte, sterbende Stadt wurde von der Natur wieder zum Leben erweckt. Als ich zum Park hinübersah, konnte ich nicht mehr an mich halten. Zum ersten Mal, seit alles begonnen hatte, weinte ich.“ Cornelius Ryan
(aus: Cornelius Ryan: „Der letzte Kampf“, Theiss Verlag)

DER FRIEDEN IST MIT UNS

Dienstag, 8. Mai 1945. „Radeln wir zur Kommandantur“, schlägt Andrik vor. „Mal sehen, was dort los ist.“ Wir radeln nicht lange. An der nächsten Ecke winken drei russische Soldaten. Springen uns quer über den Weg, als wir Miene machen, vorüberzufahren. „Maschina, Maschina!“, sagen sie und lockern ihre Pistolen. Ein kurzes Hin und Her, dann wandern wir zu Fuß weiter. Auf der Kommandantur herrscht Ferienstimmung. Heute sei Feiertag, bedeutet uns ein schläfriger Posten. Seit zwölf Uhr mittags. Wegen Waffenstillstand. – Waffenstillstand! Plötzlich überkommt uns der ganze Jubel des Befreitseins. Frei von Bomben! Frei von Verdunklung! Frei von Gestapo! Am Abend feiern wir. Feiern mit allem, was wir besitzen. Pax nobiscum! Ruth Andreas-Friedrich
(aus: „Schauplatz Berlin“, Tagebuchaufzeichnungen, Suhrkamp)

NACH WILMERSDORF GELATSCHT

Am dritten Tag lieferten uns die Polen, in deren Gefangenschaft wir waren, an die Russen aus. Dann gingen die Märsche los, eine Woche lang, jeden Tag 30 km mit fürchterlichem Fraß. Bis Biesenthal kamen wir. Wir hatten in Kirchen geschlafen, Gräben, Scheunen und weiß der Himmel, wo überall. Dauernd rückten welche aus, für die dann wiederum mehrere erschossen wurden. Also in B-thal endlich eines Abends um 10 Uhr im Hauptlager gelandet, erklärte der Kommandant, ich müsste als Frau schleunigst verschwinden. Ich versteckte mich erst einmal drei Tage im Ort bei dort etwas freier arbeitenden Kriegsgefangenen, denn ich hatte keine Papiere bei mir. Dann latschte ich munter in zwei Tagen gen Berlin. Ich latschte nach Wilmersdorf, und siehe da, das liebe Vaterherz war strahlend und noch nicht unterernährt in alter Stätte. Hildegard Knef
(Brief an ihre Mutter, September 1945, in: Petra Roek: „Frag nicht, warum. Hildegard Knef – Die Biographie“, Edel)

LEBENDE SKELETTE

Dachau, Mai 1945. Hinter dem Stacheldraht und dem elektrischen Zaun saßen die Skelette in der Sonne und suchten sich nach Läusen ab. Sie sind alterslos und gesichtslos; alle sehen gleich aus und haben keine Ähnlichkeit mit irgendetwas, das Sie, wenn Sie Glück haben, jemals zu Gesicht bekommen werden. Wir überquerten das weite, staubige Gelände zwischen den Gefängnisbaracken und betraten das Lazarett. Was einmal ein Mann gewesen war, schleifte sich ins Sprechzimmer des Arztes; er war Pole, ungefähr ein Meter achtzig groß und wog unter neunzig Pfund. Er war beim letzten Todestransport von Buchenwald nach Dachau gekommen. Fünfzig Güterwagen mit seinen toten Reisegefährten standen noch auf dem Nebengleis außerhalb des Lagers. Martha Gellhorn

(aus: Martha Gellhorn: „Das Gesicht des Krieges“. Reportagen 1937–1987, Dörlemann)

RUINEN DER SEELE

Verteilung von Rotkreuzpaketen. Es ist kaum zu glauben, dass ein paar schimmernde kleine Dosen mit Fleischpastete und Sardinen fast einen Aufstand im Lager auslösen können, dass Teesäcke, Kaffeedosen und mit Vitaminen angereicherte Schokoladeriegel Menschen beinahe zum Wahnsinn treiben. Aber so ist es. Dies ist ebenso Teil der Zerstörung Europas wie die ausgemergelten Ruinen Frankfurts. Nur sind dies die Ruinen der menschlichen Seele. Ihr Anblick ist tausendmal schmerzhafter. Kathryn Hulme
(Die amerikanische Autorin arbeitete in einem Auffanglager für Vertriebene im bayrischen Wildflecken. Zitiert nach: Keith Lowe: „Der Wilde Kontinent“, Klett Cotta)

HELDEN UND VERBRECHER

Und stell Dir vor, was wird später aus unseren Soldaten, die zu Dutzenden über eine Frau herfielen? Die Schulmädchen vergewaltigten, alte Frauen ermordeten? Sie kommen zurück in unsere Städte, zu unseren Mädchen. Das ist schlimmer als jede Schande. Das sind Hunderttausende von Verbrechern, künftigen Verbrechern, grausame und dreiste mit den Ansprüchen von Helden. Lew Kopelew

(Aus: Lew Kopelew: „Aufbewahren für alle Zeit!“, Steidl Verlag)

GOMORRA BESUCHEN

Das, was man früher unter Dresden verstand, existiert nicht mehr. Man geht hindurch, als liefe man im Traum durch Sodom und Gomorra. Durch den Traum fahren mitunter klingelnde Straßenbahnen. In dieser Steinwüste hat kein Mensch etwas zu suchen, er muss sie höchstens durchqueren. Von einem Ufer des Lebens zum anderen. Vom Nürnberger Platz weit hinter dem Hauptbahnhof bis zum Albertplatz in der Neustadt steht kein Haus mehr. Das ist ein Fußmarsch von etwa vierzig Minuten. Wie von einem Zyklon an Land geschleuderte Wracks riesenhafter Dampfer liegen zerborstene Kirchen umher. Erich Kästner

(Erich Kästner: ... und dann fuhr ich nach Dresden, „Die Neue Zeitung“, 30. 9. 46)

RAUCHEN HEISST LEBEN

Was sich in dem Gefangenenlager abspielt, ist sagenhaft. Außer Tauschhandel, Diebstahl, Wucher, Hurerei und Mord und Totschlag sagen erwachsene Männer Gedichte auf, gehen von Baracke zu Baracke, lesen aus der Bibel vor und zanken sich um die letzte Kelle Sauerkohl. Tabak ist das Wichtigste. Noch wichtiger als ficken. Die Männer stürzen sich wie von Sinnen auf die Mülltonnen und schlagen sich blutig um die weggeschütteten Teeblätter. Das Zeug wird dann getrocknet, und mit Zeitungspapier, das wir manchmal zum Arschabwischen haben, werden daraus Zigaretten gedreht. Klaus Kinski

(Klaus Kinski über seine Zeit im Kriegsgefangenenlager im britischen Colchester, Essex. Aus: Ich brauche Liebe, Heyne)

GESTANK DES TODES

Die Junihitze liegt über Berlin und erwärmt die zahlreichen frischen Gräber. Vom Landwehrkanal weht eine so unerträglich nach Tod riechende Wolke herüber, dass sich die Passanten unwillkürlich Taschentücher vor die Nase halten. Die Angst vor Seuchen geht um. Die noch intakten Krankenhäuser sind bereits mit Ruhr- und Typhuskranken überfüllt. Jetzt sollen auf Befehl der Behörden alle provisorisch beerdigten Toten wieder ausgegraben und ordnungsgemäß auf Friedhöfen bestattet werden. Tausende von Leichen waren während der letzten Kriegswochen in den Vorgärten, zwischen den Ruinen, in Parks und auf Plätzen vergraben worden. Auf Leiterwagen werden die Leichen auf die Friedhöfe transportiert. Die Menschen blicken weg, wenn so ein Transport an ihnen vorüberzieht. Zur Umbestattung der Kriegstoten werden ehemalige NSDAP-Mitglieder zwangsverpflichtet.

(aus: Traudl Kupfer: Leben in Trümmern. Alltag in Berlin 1945, Elsengold)

VERKOHLTER WOHLSTAND

In Köln sind nur wenige Häuser bewohnbar geblieben, insgesamt vielleicht dreihundert, wie man mir sagt. Von einer Straße geht man in die andere mit Häusern, deren Fenster hohl und geschwärzt wirken – wie die offenen Münder verkohlter Leichen. Hinter diesen Fenstern gibt es nichts mehr außer Decken, Möbeln, Teppichfetzen, Büchern; alles zusammen ist in die Keller der Häuser abgestürzt und liegt dort zusammengepresst zu einer feuchten Masse. Stephen Spender
(Aus: Stephen Spender: Deutschland in Ruinen, Suhrkamp)

HAUPTSTADT IN ASCHE

Wir flogen über Berlin, und ich sah die Trümmerwüste. Es sah aus wie das Weltende. Trümmer, Trümmer, Trümmer, Berlin lag in Asche. Billy Wilder

(Billy Wilder über seine Rückkehr nach Berlin, in: Cameron Crowe: Conversations with Wilder, Alfred A. Knopf)

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