Schriftsteller Erich Kästner: Kästner und der Detektiv
Am Anhalter Bahnhof kam er an, hatte eine Studentenbude am Mehringdamm, schrieb in den Cafés. Unser Autor hat die Wege Erich Kästners von Kreuzberg bis Charlottenburg neu recherchiert.
Im August 1927 ist es so weit: Erich Kästner zieht von Leipzig nach Berlin. Hier wird er Großstadtromane wie „Emil und die Detektive“ oder „Fabian“ schreiben. So steht es in den Kästner-Biografien. Das Haus Prager Straße 17 wurde weggebombt, doch ein paar Schritte weiter an einer Kita hängt eine Gedenktafel, wenn auch mit falschen Jahreszahlen. Als Kästner hier ein Zimmer bei der Witwe Ratkowski mietete, war er 28 Jahre alt, hatte bisher in Dresden und Leipzig gelebt. Doch könnte es nicht sein, dass seine Liaison mit Berlin schon früher begann?
Die Frage führt geradewegs ins schwäbische Marbach, zum Deutschen Literaturarchiv, wo Kästners Nachlass liegt:
„Liebes Muttchen! Soeben – Sonntag, 5h nachmittags – sind wir in Berlin angekommen und wohnen im Hotel Terminus, dessen Adresse ich auf der Rückseite notiert habe (...). Kleines, verhältnismäßig billiges Gasthaus am Potsdamer Platz. Jetzt sitzen wir auf der Terrasse unseres Hotels und wollen mal ganz gründlich essen. Dann wird sich umgezogen und nachher Berlin am Abend bißchen bestaunt. Bin sehr fröhlich, wieder mal in diesem Radaunest zu sein.“
So schreibt Kästner ziemlich genau ein Jahr vor der Übersiedlung aus Leipzig. Dem 27-jährigen Redakteur der „Neuen Leipziger Zeitung“ gefällt das Nachtleben so gut, dass er beschließt, Silvester in der Hauptstadt zu verbringen. Am 31. Dezember 1926 gegen 21 Uhr steigt er am Anhalter Bahnhof aus dem Zug. Gleich gegenüber vom Bahnhofsportal am Askanischen Platz, dessen Ruine heute noch steht, quartiert er sich im Hotel Excelsior ein. Das Zimmer 555 besitzt eine tolle Badewanne: „Großartig! Ich hab andauernd in der Wanne gesessen und geplantscht. Dann bin ich in die Stadt gebummelt“, schreibt Kästner seiner Mutter. „Hab bisschen getanzt, Leute beobachtet und mich sehr wohl gefühlt. Berlin ist das einzig Richtige.“
Ein Neujahrsspaziergang führt Kästner zur Universität, dabei denkt er zurück „an jene Zeit, als mir mein Muttchen Geld nach Berlin schickte“. Er sucht Orte auf, die ihm im Winter 1921/22 wichtig waren, als er in Berlin immatrikuliert war. Aus den Kästner-Biografien ist über diese erste intensive Begegnung mit Berlin wenig zu erfahren. Vergeblich die Suche in den Briefen aus dieser Zeit: keine Berliner Adresse, nirgendwo. Erst der Silvesterrapport an die Mutter vom 3. Januar 1927 führt auf die richtige Spur. Kästner besuchte am Neujahrstag ein unauffälliges Wohnhaus in Kreuzberg mit der Adresse Belle-Alliance-Straße 26.
Seine Studentenbude lag am Mehringdamm
Die Straße heißt heute Mehringdamm. Johan Zonneveld, niederländischer Verfasser einer 2500-seitigen Kästner-Bibliografie, hat das Haus Mehringdamm 26 fotografiert, wusste aber nicht, dass sich auch die Hausnummern geändert haben. Alte Adressbücher verraten: Das Haus an der Ecke Kreuzbergstraße trägt jetzt die Nummer 72. Und es steht noch! Anders als Kästners spätere Adressen.
Ein Fund mit Folgen: Nun liest man das Kreuzberg-Kapitel in Kästners 1931 erschienenem „Fabian“-Roman mit neuen Augen. Der arbeitslos gewordene Jakob Fabian streunt darin durch Berlin, um die Zeit totzuschlagen, und besucht seine ehemalige Studentenbude: „Das Haus stand wie ein alter Bekannter da, den man lange nicht gesehen hat und der verlegen abwartet, ob man ihn grüßen wird oder nicht.“ Fabian liest die Türschilder im Treppenhaus, erinnert sich an eine Geheimratswitwe, die ihn gelegentlich zum Mittagessen einlud, und daran, dass er kein Geld zum Heizen hatte: „Vorher, damals und heute, er war stets ein armes Luder gewesen, und er hatte große Aussichten, eines zu bleiben.“
Seine Erlebnisse als Student in Berlin hat Kästner später benutzt, um die Figur Jakob Fabian mit einem Vorleben auszustatten. Im Marbacher Archiv findet sich Kästners Berliner Immatrikulationsurkunde, Seminarmitschriften und auch ein Briefentwurf von 1921 an die Studentenhilfe. Darin bittet Kästner ihm einen Nachlass auf den Mittagstisch in der Friedrichstraße 107 zu gewähren. Heute ist das die Adresse des Friedrichstadt-Palasts, früher stand dort eine Kaserne, in der nach dem Ersten Weltkrieg Finanzbehörden und eine Studentenspeiseanstalt untergebracht wurden. Auch diese Erfahrung aus der Studienzeit dichtet Kästner später seinem Romanhelden Fabian an: Der verabscheut Süßes, seit er „in der Mensa am Oranienburger Tor dreimal wöchentlich Nudeln mit Saccharin hinuntergewürgt hatte“.
Ein Schreibmuster wird sichtbar: Die Schauplätze in Kästners Berlin-Romanen haben meistens einen lokalisierbaren, persönlichen Erfahrungshintergrund. Im Kinderroman „Emil und die Detektive“ ist das besonders offensichtlich. Zumindest teilweise stenografierte Kästner das Buch auf der Terrasse des Café Josty an der Kaiserallee, heute Bundesallee, Ecke Trautenaustraße. Dort befindet sich inzwischen ein Biosupermarkt (Bundesallee 201–203). Auf der Caféterrasse wird im Roman der Dieb Grundeis von den Kinderdetektiven observiert. Die Verfolgungsjagd vom Bahnhof Zoo zum Nollendorfplatz verläuft im Halbkreis um Kästners damaliges Pensionszimmer in der Prager Straße 17. Sich selbst hat er als freundlichen Kiezbewohner mit ins Bild gesetzt: In der Straßenbahn 177 auf der Kaiserallee spendiert er dem bestohlenen Emil Tischbein aus Dresden einen Fahrschein.
400 Mark für ein Bett aus amerikanischem Nussbaum
Als Kästner im Sommer 1927 von seinem Leipziger Verlag gefeuert wurde, nachdem er ein schlüpfriges Gedicht zum Beethoven-Jahr veröffentlicht hatte, und als freier Journalist in Berlin den Neuanfang wagte, da war an eine eigene Wohnung noch nicht zu denken. Der Autor wohnte wie Jakob Fabian in einem preiswerten Pensionszimmer, sein Büro, Konferenzraum und Schreibplatz war das Café Carlton am nahen Nürnberger Platz. Zwei Jahre später florierte Kästners kleine Schreibfabrik. Der Theaterkritiker, Journalist, Chansonverfasser, Gebrauchslyriker, Buch- und Filmautor konnte sich eine eigene Wohnung leisten:
Ich wohnte zirka zwölf Jahr in Logis.
Nun geht es nicht mehr. Rien va plus.
Einmal wird’s jedem zu dumm.
Ich habe mir also viel Geld geborgt
und eine kleine Wohnung besorgt.
Am Ersten ziehe ich um.
So beginnt das Gedicht „Umzug“ aus der Zeitung „Montag Morgen“ vom 23. September 1929, bei der Kästner damals jede Woche ein Poem zu aktuellen Themen ablieferte. Seine Freundin Margot Schönlank, genannt Pony, besichtigte in Kästners Auftrag verschiedene Wohnungen und wurde schon nach einer Woche in der Roscherstraße 16 in Charlottenburg fündig. Kästner selbst hat einen Grundriss der Wohnung gezeichnet und an seine Mutter geschickt. Vermutlich gibt es kein Foto des Hauses. Dafür liegt im Landesarchiv Berlin die Bauakte des im Krieg zerstörten Baus – mit Fassadenzeichnung, Grundrissen, Etagenplan.
Das Wohnhaus Roscherstraße 16 war erst 1928 errichtet worden: neusachlich in der Gliederung, belebt durch schiefwinklige Fassadenvorsprünge und eine dezent expressionistische Anmutung. Durch das Vorderhaus, in dem sich ein auf Wiener Herrenmoden spezialisiertes Schneidergeschäft befand, gelangte man auf einen vom Quer- und zwei Seitenflügeln eingeschlossenen Innenhof mit sternförmig angelegten Beeten.
Ein erotisch hyperaktives Leben
Kästners Wohnung hatte drei Zimmer, Balkon, Bad, Innentoilette, Küche, Mädchenkammer, Speisekammer, Einbauschränke, Zentralheizung und Telefon. Mit dem Lift konnte er bis in den 4. Stock fahren. Die Neubauwohnung mit hell gestrichenen Wänden und Parkett war in gutem Zustand, dennoch beauftragte Kästner Maler, Tapezierer und einen Parkettleger mit umfangreichen Renovierungsarbeiten. 400 Mark investierte er in ein Bett aus amerikanischem Nussbaumholz. Denn er führte in dieser Zeit nicht nur literarisch, sondern auch erotisch ein hyperaktives Leben – und hatte keine Lust mehr, dabei von Nachbarzimmern aus belauscht zu werden. Im „Fabian“ erzählt Kästner drastisch, wie wenig geschützt das Liebesleben in Pensionen vor den Ohren der Nebenmieter war.
Die Wohnung in der Roscherstraße 16, schrieb Kästner im Rückblick, war für ihn ein Ort der „Erinnerungen in jeder Größe und mancher Haarfarbe“. In der geräumigen Wohnung war genügend Platz, um die Mutter, die regelmäßig aus Dresden nach Berlin kam, zu beherbergen. War der Sohn auf Reisen, quartierte sich Ida Kästner allein in der Roscherstraße ein, putzte und räumte auf.
Das nahe „Café Leon“ am Kurfürstendamm 155 wurde Kästners neues Stammlokal. Es war Teil des schwungvollen Bauensembles von Erich Mendelssohn um die heutige Schaubühne, die 1928 als Universum-Kino eröffnet wurde. Hinter dem Theaterbau sind noch Tennisplätze erhalten, inzwischen überwuchert. Im Marbacher Archiv liegen unter den 3500 Fotos des Nachlasses auch welche von Kästner im weißen Tennisdress. Der Kurfürstendamm war sein Sonnenstudio: „Ich sitze viel im Leon, um braun zu werden.“ In dem runden Kopfbau neben der heutigen Schaubühne war auch das Kabarett der Komiker untergebracht, für das er Texte schrieb und in dem er selbst bei Wohltätigkeitsveranstaltungen auftrat.
Am frühen Morgen klingelt die Gestapo
Die Nationalsozialisten beendeten Kästners Karriere. Am 10. Mai 1933 wurden seine Bücher auf dem Platz vor der Universität verbrannt, Kästner war Augenzeuge. Im Nachlass entdeckt man noch etwas Unbekanntes: angekokelte Aufzeichnungen des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld und ein Privatfoto von rauchenden Büchern auf dem heutigen Bebelplatz – beides hat ein Leser aus Britz nach Kriegsende Kästner geschickt.
Ein Zeitungsausschnitt aus dem „Völkischen Beobachter“ in Kästners Nachlass kündigte für den Januar 1937 einen „Tag der Polizei“ mit Festumzug, Konzerten und Hundedressur statt: „Ein Hauptspaß für Kinder werden auch die großen Kinovorstellungen sein, die in mehreren großen Lichtspieltheatern bei freiem Eintritt abgehalten werden. Es gibt den Film ,Emil und die Detektive‘.“ Zu diesem Zeitpunkt waren in den Buchhandlungen keine Kästner-Titel mehr zu bekommen. Der Film aber wurde noch zur Imagepflege der gleichgeschalteten Polizei benutzt.
Am 21. Juni 1937 klingelten Gestapoleute an Kästners Wohnungstür und holten den schlaftrunkenen Autor nach einer durchzechten Nacht aus dem Bett. Im schwarzen Mercedes ging es zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz – dort, wo heute das Einkaufszentrum Alexa steht. Die Beamten wollten wissen, wovon er lebe, in welchen Verlagen im Ausland seine Bücher erschienen. Nach drei Stunden wurde er wieder freigelassen.
Die Wohnung in der Roscherstraße 16 war für Kästner ein Refugium in der feindlichen Umgebung des nationalsozialistischen Berlin. Zwischen seinen Büchern, drei- bis viertausend Bänden, versteckte er geheime Aufzeichnungen über den Alltag im Dritten Reich, das sogenannte Blaue Buch. Es liegt heute im Deutschen Literaturarchiv, Kästner hatte es während der alliierten Luftangriffe immer griffbereit, zusammen mit seinem Bankbuch, einem Reservewaschbeutel und einer Taschenlampe für den Fall einer raschen Flucht in den Luftschutzkeller.
„Seit Tagen werden die Juden nach dem Warthegau abtransportiert. Sie müssen in den Wohnungen alles stehen und liegen lassen und dürfen pro Person nur einen Koffer mitnehmen. Was sie erwartet, wissen sie nicht. – Ein jüdisches Ehepaar, das in meinem Haus wohnt, hat mich gefragt, ob ich Möbel, Bücher, Bilder, Porzellan usw. kaufen will. Sie hätten sehr schöne ausgesuchte Dinge. Aber das Geld werden sie ja nicht mitnehmen dürfen“, erfährt man aus dem Blauen Buch. Vorsichtigerweise nicht notiert hat Kästner, dass er in die Illegalität abgetauchte Juden unterstützte.
Am 16. Februar 1944 schlägt eine Bombe ein
Der Bombenkrieg verwandelte die Umgebung in eine apokalyptische Landschaft: „Der Kurfürstendamm brannte an allen Ecken und Enden.“ In der Nacht zum 16. Februar 1944 traf es Kästners Haus: „Wenigstens einer der Schreibmaschinen wollte ich das Leben retten. Leider sausten mir schon im dritten Stock brennende Balken entgegen. Der Klügere gibt nach.“ Danach zog Kästner zu seiner Freundin Luiselotte Enderle in die nahe Sybelstraße 8. Sie lag über dem 2011 geschlossenen Kino „Die Kurbel“.
Ein paar Häuser weiter in der heutigen Sophie-Charlotte-Oberschule, Sybelstraße 2–4, musste Kästner im Winter 1944/45 zur Musterung für den Volkssturm antreten. Dass er Berlin nicht gegen die Rote Armee zu verteidigen hatte, verdankte er seinen guten Kontakten zur Filmindustrie. Ein Ufa-Mitarbeiter stellte ihm Papiere aus, die ihn zum Drehbuchautor des Films „Das verlorene Gesicht“ beförderten. Damit konnte Kästner nach Tirol abreisen. Die Dreharbeiten in Mayrhofen waren ein reines Täuschungsmanöver: In den Kameras befand sich kein einziger Meter Filmmaterial.
Vom Autor ist soeben „Kästners Berlin“ im Verlag für Berlin-Brandenburg erschienen. 160 Seiten, 200 Bilder. 24,99 Euro.