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Oliver Reese
© BE/Jonas Holthaus

BE-Intendant Oliver Reese: „Die Sitten in Berlin sind rauer als anderswo“

Oliver Reese, der Intendant des Berliner Ensembles, spricht über das Defizit an seinem Haus, die verblüffenden Rechenkünste von Claus Peymanns und die Pläne für die neue Spielzeit.

Herr Reese, Ihre erste Spielzeit geht langsam dem Ende zu. Es gibt alarmierende Zahlen: Nicht nur die Volksbühne, von der alle immerzu reden, auch das Berliner Ensemble hat ein hohes Defizit. Eine Million Euro im Soll: Wie kann das sein?

Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Die Zahl, die Sie alarmierend finden, ist das Ergebnis des Haushaltsjahres 2017. Sie bezieht sich auf einen Wirtschaftsplan, den nicht wir, sondern der Vorgänger Claus Peymann abgegeben hat. Die Pläne gelten immer für ein Kalenderjahr, nicht für eine Spielzeit. Peymann hatte sieben Zwölftel, wir fünf Zwölftel des Jahres zu verantworten, gut drei Monate davon konnten wir nach unserer so früh wie irgend möglich angesetzten Eröffnung spielen. Und in seinem Wirtschaftsplan standen mehrere Positionen, die meiner Ansicht nach von vornherein nicht zu erreichen waren.

Was ist das für eine seltsame Rechnung?

Peymanns Geschäftsführung ging von absolut unrealistischen Gastspieleinnahmen in Höhe von 1,3 Millionen Euro aus. Tatsächlich wurden unter meinem Vorgänger aber nur 625.000 Euro durch Gastspiele erlöst. Wir spielen ja erst seit September 2017, wie sollten wir da schon mit neuen Stücken auf Tournee gehen, die es noch gar nicht gab? Außerdem standen in dem Wirtschaftsplan noch 250.000 Euro angeblicher Lottomittel für eine Produktion, die in Wirklichkeit bereits 2016 verbucht wurden. Die hätten im Wirtschaftsplan für 2017, dem Jahr der Übergabe, gar nicht stehen dürfen und fehlen hier demzufolge als Einnahme. Und damit sind wir bei gut 900.000 Euro Defizit. Hinzu kommen 100.000 Euro für diverse von uns vorgefundene Verbindlichkeiten sowie schließlich Anschubarbeiten, die man nun einmal hat als beginnende Intendanz. Und da haben Sie die Million.

Das ist ja wirklich ein schönes Abschiedsgeschenk von Claus Peymann.

Inklusive der nicht mehr vorhandenen Rücklagen.

Die es hätte geben müssen?

Peymann hat seinerzeit siebenstellige Rücklagen vorgefunden. Wir praktisch nichts mehr. Der Kühlschrank war leer.

Das irritiert doch sehr. Claus Peymann hat sich stets als der mustergültige, zuverlässige Theaterleiter dargestellt. Wie wird das Defizit abgebaut?

Das BE ist der Struktur nach eine gemeinnützige GmbH, die öffentliche Zuschüsse bekommt. Wir finden einen Weg mit dem Senat, wie wir das Defizit ausgleichen. Wir werden versuchen, in den kommenden beiden Jahren je eine halbe Million Euro einzusparen, um das Defizit auszugleichen. Das wird eine Herausforderung für ein sowieso unterfinanziertes Haus wie das unsrige.

Wie sind die Zahlen, die Zuschauerzahlen bei Ihnen seit der Eröffnung?

Das BE ist weiterhin sehr gut besucht. Seit dem 21. September 2017 bis jetzt haben wir 338 Vorstellungen gespielt, mit 2,14 Millionen Euro Einnahmen, bei einer Platzausnutzung von 82,6 Prozent, das sind real 110.000 Zuschauer. Das Publikum hat uns mit großer Neugierde in Berlin empfangen und sich für das neue Programm interessiert, worüber ich sehr glücklich bin. Und wir haben in kurzer Zeit überraschend viele Einladungen für Gastspiele bekommen.

Es ist erfahrungsgemäß schwer, in Berlin ein Theater neu zu eröffnen. Wenn Sie mal versuchen, realistisch zurückzublicken – wie lief das bei Ihnen am BE?

Es war ein Wahnsinn. Mit „Caligula“, „Kreidekreis“ und „Nichts von mir“ sind an einem Wochenende drei neue Produktionen auf gutem Niveau herausgekommen, auch wenn sie dem Tagesspiegel nicht so gefallen haben. Man muss bedenken, dass die Intendanz Peymann bis zum Anschlag gespielt hat und darüber hinaus. Wir hatten extrem wenig Zeit, um uns mit dem Haus und den Kollegen vertraut zu machen – gleichzeitig begann ein rasantes Sanierungsprogramm mit einer neuen Spielstätte, einer neuen Probebühnen-Struktur, der uns überlassenen Entsorgung von Alt-Bühnenbildern und Elektroschrott sowie dem komplett zu ersetzenden, maroden IT-System.

Peymann zeigte sich also nicht sehr kooperativ bei der Übergabe, wie auch Frank Castorf seinem Nachfolger Chris Dercon das Anfangen an der Volksbühne sehr schwer gemacht hat. Was sind das hier für Sitten?

Ich kenne es aus Frankfurt und auch früher vom Deutschen Theater anders. Ich halte eine freundliche Übergabe für selbstverständlich, man tut doch das Beste für ein Haus und nicht für sich selbst. Die Sitten in Berlin sind ohne Frage rauer als anderswo. Hier ist viel Ego-Shooterei dabei und weniger Sorgsamkeit für die doch öffentlichen Einrichtungen, die uns anvertraut sind. Wir sind auf Zeit berufen von Politikern, die übrigens auch auf Zeit berufen sind. Man übergibt ein Haus so, wie es für seine Mitarbeiter, für die Institution und für das Publikum am besten ist. Ich habe in Frankfurt keine dicken Abschiedsbücher drucken lassen, die dann beim Nachfolger wie Ziegelsteine im Keller liegen. Frank Castorf hat mir gerade einen sehr schönen Satz gesagt. Er lautet: „Das beste Theater findet immer in der Erinnerung statt.“ Darüber kann man sich doch so schön verständigen: Sie sagen Grüber, ich sage Gosch …

Ich sage auch Gosch …

…und ich sage auch Grüber. Darum geht es. Um Theaterkunst. Und nicht darum, dem Nachfolger mit dem Ellenbogen noch eins reinzuhauen. Wir hatten viel Druck am Beginn. Dieser vergangene Berliner Sommer mit Abgängen von zwei Intendanten, die überproportional lang an ihren Häusern waren und viel für ihre eigene Mythenbildung getan haben, war von gewaltigen Erwartungen begleitet. Da sind wir doch mehr als achtbar gestartet, mit vollem Programm, mit einem Energieschub. Und mit einem dollen Ensemble. An dem Eröffnungswochenende war auch noch Bundestagswahl und Berlin-Marathon.

Und die Volksbühne war besetzt. Das hat öffentliche Energie abgezogen, oder? Aber lieber richtig loslegen als Leere vorzeigen und beleidigt sein. Hauptsache, hoch mit dem Lappen. War das Ihr Credo?

Bernd Wilms hat immer gern einen Satz aus Becketts „Warten auf Godot“ zitiert: „Machen wir lieber nichts, das ist sicherer.“ Dieser Satz gilt für Theater nicht.

Was machen Sie in der nächsten Spielzeit, damit es noch besser wird?

Wir kommen dem selbst gewählten Programm noch einen erheblichen Schritt näher. Da spielt jetzt auch Michael Thalheimers „Endstation Sehnsucht“ eine wichtige Rolle. Da hat sich meine Hoffnung erfüllt, dass ein wichtiger Regisseur wieder eine Heimat bekommt und sich auf Schauspieler einlassen kann. Hier kommt das Theater in Konzentration bei sich an.

Sie haben neue, aktuelle Stücke versprochen – Autorentheater. Da war noch nicht so viel.

Wir planen für die nächste Saison allein im Großen Haus drei große Uraufführungen. Kay Voges eröffnet mit einem Projekt, „Die Parallelwelt“, in dem wir das Phänomen der Digitalisierung in den Arbeitsprozess einbauen. Die Premiere findet gleichzeitig in Berlin und Dortmund statt, nachdem die Schauspieler vier Wochen lang gemeinsam geprobt haben. Das hat es noch nie gegeben. Danach wird das Ensemble geteilt und getrennt marschieren und über Video per Datenautobahn zusammen spielen. Dann gibt es eine Produktion von Regiestar Simon Stone, „Eine griechische Trilogie“, ein großes Ensemblestück mit Martin Wuttke. Und danach kommt Árpád Schilling. Er schreibt und inszeniert ein Stück für das BE. In Ungarn wurde Schilling zum Staatsfeind erklärt, deshalb ist es wichtig, dass wir ihm einen Ort, gerade in Berlin, geben.

Und Castorf?

Frank Castorf wagt sich erneut an Bertolt Brecht. Er inszeniert den „Galilei“ mit Jürgen Holtz. Michael Thalheimer macht Heiner Müllers „Macbeth“. Fritz Kater hat ein Stück über Müller geschrieben, „heiner 1-4“, das an dieses Haus gehört. Es spielt auch am BE, und es kommen auch Berliner Kritiker vor.

Was ist mit Moritz Rinkes groß angekündigtem Autoren-Programm?

Da werden wir die ersten beiden Stücke bringen. „Amir“ von Mario Salazar beschäftigt sich mit einem jugendlichen Straftäter in Neukölln, „Kriegsbeute“ von Burhan Qurbani und Martin Behnke erzählt von einer Waffenhändler-Dynastie. Ich inszeniere das neue Stück von Tracy Letts, „Wheeler“, ein Stück über einen Loser um die fünfzig, also ich lege es autobiografisch an … Und es gibt ein neues Stück von Marlene Streeruwitz, das „Mar-a-Lago“ heißt. Es geht aus vom Don-Juan-Mythos und weiter zu #MeToo, ein deutscher Intendant taucht da auch auf.

Es gibt viel Bewegung. Herbert Fritsch ist an der Schaubühne, Sophie Rois geht ans Deutsche Theater: Wie sehen Sie die Entwicklung in Berlin? Was wird aus der Volksbühne?

Vom Ensemble ist nichts mehr übrig, vom Spirit ist nichts mehr übrig. Jetzt ist leider wirklich Tabula rasa, aber darin liegt auch eine Chance. Die Volksbühne wird wieder mitspielen. Wir können aufhören, Trübsal zu blasen. Es geht jetzt um eine der heißesten kulturpolitischen Aufgaben der letzten Jahre. Da ist eine echte Lücke in der Stadt entstanden, die wir anderen nicht füllen.

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