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Jonathan Franzen.
© Beowulf Sheehan/Rowohlt

Jonathan Franzen: Neuer Roman "Unschuld": Die Seele im System

Wie traulich war doch der DDR-Sozialismus: Jonathan Franzen erzählt in seinem neuen Gesellschaftsroman „Unschuld“ vom Totalitarismus des Internets.

Vor Romanautoren ist kein Geheimnis sicher. Zu jedem noch so gut gesicherten Haus verschaffen sie sich Zutritt, sie durchwühlen jede Schublade, kontrollieren jede SMS und knacken jedes Passwort. Sie sehen, wie oft es jemandem begierig in den Lenden zuckt, und wenn sie gastroenterologisch so interessiert wie Jonathan Franzen sind, notieren sie sogar, mit welcher Macht es ihren Figuren auf der Toilette das Gedärm zerreißt. Sie lauschen jedem Streit und jedem Liebesflüstern, sie lesen Gedanken und können zu allem Überfluss in die Zukunft schauen. Romanciers kennen ihr Personal in- und auswendig. Sie spielen Hebamme und Totengräber, Psychotherapeut und Hellseher, Spion und lieber Gott. Dass sie nicht als Monster verschrien sind, liegt einzig und allein daran, dass sie für gewöhnlich nur fiktiven Figuren nachstellen und anderen eben dadurch eine Idee davon vermitteln können, was es heißt, eine Privatsphäre zu haben.

Wie man es aber dreht und wendet: Eine gewisse Verwandtschaft zwischen Erzählern realistischer Provenienz, Geheimdienstagenten und Whistleblowern lässt sich schwer leugnen. Sie alle operieren in einem Feld von Datenerhebung, Detailverknüpfung, Wissen und Verrat, und indem sie Verborgenes offenlegen, arbeiten sie an der Herstellung von Wahrheiten über Menschen und Sachverhalte. Mit seinem Roman „Unschuld“, in dessen Figurenkosmos Andreas Wolf, ein aus Ostberlin stammender Netzaktivist mit dissidentischen Wurzeln, den Strippenzieher spielt, lädt Jonathan Franzen zu diesem Vergleich geradezu ein. Denn als Versuch, der revolutionären Allgegenwart digitaler Kommunikationsformen auf die Spur zu kommen, beschreibt er einen Totalitarismus, angesichts dessen der DDR-Sozialismus wie ein harmloses Vorspiel wirkt.

Feind der Elite und Freund der Massen

„Die alte Republik“, heißt es, „hatte sich in puncto Überwachung und Paraden gewiss hervorgetan, aber die Essenz ihres Totalitarismus war alltäglicher und subtiler gewesen. Man konnte mit dem System kooperieren oder es ablehnen, aber was überhaupt nicht möglich war, ganz gleich, ob man ein sicheres, angenehmes Leben genoss oder im Gefängnis saß, war gar nicht mit ihm in Beziehung zu treten.“ Und nach einem bitterbösen Porträt des neuen Apparatschiktums im Netz: „Wie die alten Politbüros stellte sich auch das neue als Feind der Elite und Freund der Massen dar, darauf aus, den Konsumenten zu geben, was sie haben wollten, aber Andreas schien es, als würde das Internet eher von Angst regiert: der Angst, unpopulär und uncool zu sein, der Angst, etwas zu verpassen, der Angst niedergemacht oder vergessen zu werden.“

Dabei handelt es sich zweifellos um Figurenrede, aber auch da, wo es Franzen sichtlich höllische Lust bereitet, den Apologeten der Web-Zukunft mit geliehener Zunge eins auszuwischen, ist es nie billige Kulturkritik. Wie jeder gute Schriftsteller benutzt er seine Protagonisten nicht einfach als Sprachrohr, sondern spinnt sie ein in Eigeninteressen und unentrinnbare Perspektiven. So rückt er auch das, was Andreas als Meinung kundtut, in ein Zwielicht, in dem sich der charismatische Anführer des Sunlight Project, mit dem er die WikiLeaks von Julian Assange beerbt, als paranoider Vorsteher einer Sekte erweist, die nichts anderes betreibt als „eine Ruhmfabrik, die sich als Geheimnisfabrik tarnte“. In ihrem Schutz lebt der zwanghafte Onanierer und Frauenverschlinger, Sohn eines sozialistischen Staatsökonomen und einer linientreuen Anglistin, die ihn mit ihrer Liebe fast erstickt, seinen Narzissmus aus.

Franzen inszeniert den Konflikt von Journalismus und Whistleblowing

Und das ist nur ein Strang dieses auf gut 800 Seiten in sieben novellenartigen Unterbüchern entwickelten Romans, der Schicht um Schicht abenteuerliche Intrigen und Verwicklungen freilegt, in denen Betrug und Selbstbetrug oft nahe beieinander liegen. Außerdem inszeniert Franzen den Konflikt von Journalismus und Whistleblowing: Er spielt die Armseligkeit einer auf bloße Denunziation ausgerichteten Enthüllung aus gegen den im Idealfall aufklärerischen Willen eines Erzählens von Geschichten, das man auch als Bekenntnis zur eigenen literarischen Sache verstehen kann. Er rührt an die Grenze von Künstlertum und Kritikerdasein. Er führt seine sexuelle Unzweideutigkeit in den Kampf mit den Ödnissen der Netzpornografie. Und er verankert seine Themen mit blitzendem Sarkasmus in Figuren, die sich damit überzeugend quälen – und gegenseitig behelligen.

Ein scharfsichtiger Nachfahr von Ingmar Bergmans Verletzungsorgien.

Frühzeit der Kommunikation. Blick in die neue Dauerstellung „Das Netz“ im Deutschen Technikmuseum Berlin, die am 9. September eröffnet.
Frühzeit der Kommunikation. Blick in die neue Dauerstellung „Das Netz“ im Deutschen Technikmuseum Berlin, die am 9. September eröffnet.
© DAVIDS/Guenter Peters

Wie in den Vorgängerromanen „Freiheit“ und „Die Korrekturen“ entwirft er Paare, die sich in ihrer wechselseitigen Verfallenheit zu Grunde richten. Was zwischen Menschen schiefgehen kann, geht in Franzenland früher oder später schief. Aus unaufhaltsamen Anziehungskräften entwickelt sich ebenso unaufhaltsam ein Abstoßungsprozess, aus der zärtlichsten Einigkeit Zerfleischung. Franzen ist ein scharfsichtiger Nachfahr von Ingmar Bergmans Verletzungsorgien und den aus falschen Erwartungen und Missverständnissen geknüpften dialogischen „Knoten“ des britischen Psychiaters Ronald D. Laing – nur auf eine grelle amerikanische Weise, die noch im tiefsten Obsessionselend etwas Komisches entdeckt.

Insbesondere die Liebeskollision von Anabel Laird, einer Möchtegern-Avantgardefilmerin, die ihrer milliardenschweren Familie zu entfliehen versucht, und Tom Aberant, dem Journalisten, die sich nach der Scheidung noch einmal so richtig ineinander verschrauben, lebt von einem einzigen Überbietungsfuror. Zuverlässig ruht dies alles auf den Schultern eines thrillerhaften Plots, der dem chronologischen Ausgangspunkt, einem Mord, den Andreas begeht, um seine Freundin Annagret aus den Missbrauchsfängen ihres Stasi-Stiefvaters zu befreien, Wendung um Wendung entlockt.

Es scheint nichts zu geben, das Franzen nicht überzeugend von der Hand gehen würde. Er beschreibt die sozialistischen Wüsten der DDR so eindrücklich wie die bolivianische Dschungeloase, in der Andreas schließlich sein Sunlight Project ansiedelt. Mit tonsicherer Nonchalance navigiert er durch die Stofffluten, wobei er sich nur einige eitle Selbstbezüglichkeiten wie die Bemerkung, dass die amerikanische Literatur gerade von allzu vielen Jonathans wie „Jonathan Savoir Faire“ heimgesucht werde, verkneifen hätte können. Und doch hat er in der Furchtlosigkeit, mit der er ein ganzes Zeitalter in Angriff nimmt, das er bis in die Ausstaffierung der marginalsten Nebenfigur mit skurrilem Erfindungsreichtum ausmalt, eine Herausforderung nicht angenommen, die ins Herz seines Romans zielt.

Franzen schleift seine Figuren am Nasenring durch die Arena

Franzen, mittlerweile 56 Jahre alt, hat Zeit seines Schriftstellerlebens einer Literatur misstraut, die sich selbst den Boden unter den Füßen entzieht. Dass der Erzähler nicht mehr Herr im eigenen Haus sein solle, weil er sich als Instanz infrage stellen müsse, war ihm suspekt – nicht zuletzt im Dienst eines von Bewusstseinsströmen, metafiktionalen Grübeleien und trüben Vermutungen erschöpften Publikums, das es ihm mit Millionenauflagen gedankt hat, fest an die Hand des Meisters genommen zu werden.

Doch das abgeschlossene Gefüge, das er in „Unschuld“ erschafft, präsentiert seine Bewohner in so vollkommener Transparenz, dass sie ihm im Hinblick auf die Themen von Enthüllung und Entblößung im Netz seltsam vorkommen müsste. Kein Aspekt ihres Wesens bleibt ihm verborgen, als könnte er ihnen nicht den kleinsten Rest Unergründlichkeit zugestehen. Dramaturgisch geht jeder Zug lückenlos auf, alles ist psychologisch schlüssig und motivisch mustergültig entfaltet. Franzen schleift seine Figuren am Nasenring durch die Arena eines Erzählens, das sich um keinen Preis selbst zum Thema machen will.

Sie selbst sind sich freilich meist schon rätselhaft genug: einer Vergangenheit ausgeliefert, die sie nicht durchschauen. Pip Tyler zum Beispiel würde gerne wissen, wer ihr Vater ist, allein um ihn um Geld bitten zu können. Nach vier herrlichen Collegejahren, die sie aus den Klauen ihrer Mutter befreit haben, die ihr in puncto Herkunft jede Auskunft verweigert, sitzt sie orientierungslos in einem besetzten Haus in Oakland – und auf Schulden von 130 000 Dollar. Sie jobbt als Telefonvermarkterin von Ökostrom, reibt sich auf zwischen der Liebe zu einem verheirateten Mann und den Aufdringlichkeiten eines Kollegen, bevor sie sich überreden lässt, als Praktikantin des Sunlight Project nach Bolivien zu gehen.

Hommage an die "Großen Erwartungen" von Charles Dickens

Pip, von ihrer Mutter auf den Namen Purity getauft, was Franzens „Unschuld“ im Original den einleuchtenderen Titel gegeben hat, weil er die Motive von Schmutz und Reinheit vielfach variiert, ist der arglose Einsatz in dem boshaft kalkulierten Spiel, das Andreas Wolf anstellt. So landet sie als Rechercheassistentin von Tom Aberants Freundin Leila Heitou in Denver – und über kurz oder lang im Haushalt der beiden, zu einer eigenwilligen ménage à trois. Zu ihr gesellt sich im Hintergrund als Vierter Leilas gelähmter Mann Charles, ein von seiner Bedeutung erfüllter und von seiner Erfolglosigkeit enttäuschter Schriftsteller.

Offen gehandelte intertextuelle Reize ergeben sich aus dem Namen Pip, der in Charles Dickens’ Roman „Große Erwartungen“ dem männlichen Helden, einem Waisenjungen, gehört. Außerdem durch die Shakespeare-Zitate, mit denen sich Andreas und seine Mutter beharken, sowie durch die mephistophelische Selbstdefinition der Kraft, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Sie steht dem Roman, der sich alle Mühe gibt, sie herumzudrehen, als Motto voran. Man sollte diese Reize aber nicht zu hoch bewerten. Sie sind das ironisch-kokette Glitzern über den Wogen eines opulenten Gesellschaftsromans, der nicht zu Unrecht auf den funkelnden bürgerlichen Realismus von Dickens verweist.

Messen lassen muss sich Franzen aber an seinen Zeitgenossen und unmittelbaren Vorfahren. Saul Bellow schrieb die prägnanteren Sätze. E.L. Doctorow bewies mehr Sinn für ein Erzählen, das sich in der Konstruktion künstlicher Welten nicht unsichtbar machen darf. David Foster Wallace sprengte mit seiner Sprachfantasie jeden Plot. Franzen kann wie kaum ein anderer auf Tempo schreiben, seitenlang durch Dialogwolken rauschen, ohne die Zügel aus der Hand zu geben, Nebenhandlungen eröffnen und Interesse für seine Figuren wecken. Das geht ohne Substanzverlust sicher kürzer, dichter – und, ja, moderner. Aber es ist Szene für Szene von einer Intelligenz, die sich sogar an Ereignisse wie den Sturm auf die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße 1990 herantraut. Wer hätte jemals gedacht, dass sich als erstes ein Amerikaner an sie wagen würde?

Jonathan Franzen: Unschuld. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt, Reinbek 2015. 830 Seiten, 26,95 €.

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