Literatur: Jonathan Franzen: Die heilbare Familie
Generationenepos, Epochenpanorama, Melodram: Am Mittwoch erscheint Jonathan Franzens neuer Roman "Freiheit". Das Wort ist keineswegs zu groß für das, was sich Franzen vorgenommen hat.
Wer den Zeugnissen glaubt, die Jonathan Franzen von seinem Leben als Schriftsteller abgelegt hat, muss ihn als chronisch deprimierten Menschen betrachten. Als Student war er deprimiert über die Mühen, einen eigenen Ton zu entwickeln. 1988, nach dem Erscheinen seines ersten Romans „Die 27ste Stadt“, war er über seinen medialen Erfolg ebenso deprimiert wie den mangelnden Nachhall beim Publikum. Er hatte gemerkt, „dass das Geld, der Hype, die Fahrt in einer Stretch-Limousine zu einem Fototermin für ,Vogue’ nicht einfach zusätzliche Leistungen waren. Sie waren der Hauptpreis, der Trost dafür, dass man einer Kultur nichts mehr bedeutete.“ Als er 2001 mit seinem übernächsten Buch, den „Korrekturen“, den Jubel der Kritik und die weltweite Verehrung der Leser bekam, war er deprimiert, dass Oprah Winfrey seinen Roman offenbar nur als emotionales Spektakel, nicht als literarisches Wagnis ansah. Und in den neun Jahren, die er für seinen heute erscheinenden Roman „Freiheit“ brauchte, war er zutiefst deprimiert über die immer wieder auftauchenden Schreibblockaden.
Es gibt also Grund, noch einmal die Frage zu stellen, die 1996 über seinem Essay für „Harper’s“ stand, der sich in „Anleitung zum Alleinsein“ wiederfindet: „Wozu der Aufwand?“ Hatte er darin nicht auch gespottet, dass mit Scott Turow und Stephen King in zehn Jahren nur zwei Schriftsteller auf dem Titel des „Time Magazine“ gelandet seien, „ehrbare Autoren, aber niemand bezweifelt, dass sie nur ihrer fetten Verträge wegen auf dem Cover waren“? Mit „Freedom“ wurde ihm diese Ehre gerade selbst zuteil, und in der ihm eigenen Mischung aus Ernsthaftigkeit und Koketterie, Eitelkeit und Uneingebildetheit, dürfte er, von der Aussicht beschwert, wieder und wieder the next big American novel liefern zu müssen, geradewegs in eine neue Depression schliddern. In „Harper’s“ tröstete er sich mit einem Motto von Flannery O’Connor: „Menschen ohne Hoffnung schreiben nicht nur keine Romane, sondern, und das trifft die Sache genauer, sie lesen auch keine. Wer dabei ist zu verzweifeln, verweigert jede Art von Erfahrung, und der Roman ist natürlich eine Möglichkeit, Erfahrungen zu machen.“
„Freiheit“ ist ein großes Wort für das, was die Protagonisten des gleichnamigen Romans umtreibt, und nicht viel mehr als ein verbaler Lockstoff. Doch es ist keineswegs zu groß für das, was sich Franzen vorgenommen hat: die Fortführung des Familienromans im Zeitalter der familiären Atomisierung, die im Nebeneinander der Figur für Figur abgearbeiteten und kapitelweise miteinander verschränkten Episoden ihren Ausdruck findet. Und ein rund 30 Jahre umfassendes Epochenporträt bis in die Gegenwart, das wiederum am Familienroman überprüft, wie die politischen Verwerfungen nach 9/11 zusammen mit dem Einfluss von Netzpornografie und SMS-Kommunikation nur das historische Setting ändern oder die Substanz unserer Sehnsüchte antasten.
Wenn man nach Patty, der zentralen Figur von „Freiheit“, urteilen sollte – ihr gehören neben der besonderen Aufmerksamkeit des auktorialen Erzählers zwei auf Anregung ihres Therapeuten verfasste autobiografische Teile –, dann sind unsere privaten Träume altmodisch und unsere Schicksale gewöhnlich geblieben. Patty ist die Frau, die auf dem College eine vielversprechende Basketballerin abgibt, als 17-Jährige nach einer alkoholseligen Party vergewaltigt wird und ihr Heil bald als Vorstadtmutter mit zwei Kindern in Ramsey Hill, einem von lauter jungen, hoffnungsvollen, gesundheitsbewussten Familien bewohnten Stadtteil von St. Paul, Minnesota, sucht.
Bei der Wahl ihres Ehemannes Walter ist sie nicht dem Ruf ihres Herzens gefolgt, sondern der Stimme der Vernunft und Walters Werbungsversuchen. In ihr arbeitet immer noch die Erinnerung an Walters besten Freund Richard Katz, einen notorischen Kreativchaoten, Frauenverschlinger und Indierocker, der mit seiner Band The Traumatics später zur Legende wird. Ein egozentrisches Energiebündel, das, stets weniger gebildet als der hochkulturversessene Umweltjurist Walter, mit jener Spannung ausgestattet ist, die ihrem liebenden Gatten von Anfang an fehlt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese schlummernde ménage à trois Sprengkraft gewinnt und durch die junge Lalitha, Walters indischstämmige Assistentin, zum Quartett erweitert wird. Das also sind die Berglunds: zwei, die nicht füreinander geschaffen sind, sich als Paar dann aber doch zu erschaffen lernen. Keiner von beiden ist so glücklich, dass er das Gras auf der anderen Seite des Zaunes nicht irgendwann grüner finden würde. Keiner ist aber auch so vernagelt, nicht zu sehen, dass das Aushalten gemeinsamer Schmerzen manchmal erträglicher ist als das Ausleben scheinbarer Annehmlichkeiten mit anderen. Was bitte ist an dieser Konstellation wie aus dem ehetherapeutischen Ratgeber aufregend?
Es gibt nur ein Rezept, hat Henry James einmal gesagt, sich nämlich so richtig ums Kochen zu kümmern. Damit kommt man Franzens Kunst ein ganzes Stück weit bei. Was ihm allein an psychologischen Finessen zu Patty und Walter einfällt, funkelt nur so vor tragikomischen Details und liebevoller Anteilnahme. Und wie leicht er erst die Nebenfiguren und Parallelkonstellationen ausfaltet, hinein in die Generation der Eltern und der Kinder, zeugt von einer erzählerischen Sicherheit, in der Erfahrung, Recherche und Imaginationskraft perfekt miteinander verschmelzen.
So sehr hier jeder zum Einzelkämpfer verdammt ist, so sehr wiederholt sich das Berglund’sche Fatum in Variationen – etwa in Sohn Joey, dem arglos-zynischen Neocon, der im kriegszerstörten Irak Handelsgeschäfte anzetteln will. Mit Connie, der Nachbarstochter, zu der er aus Protest gegen seine demokratischen Eltern schon als Teenager gezogen ist, heiratet er die Liebe seines Lebens und lässt sich dann doch von Jenna, der schwindelerregend schönen Schwester seines jüdischen Freundes Jonathan blenden und zu abenteuerlichen Betrugsmanövern hinreißen. Niemand bleibt hier auf dem Papier, nichts wirkt ausgedacht.
Es wird überdies gevögelt, dass sich die Betten biegen, und man fragt sich, ob diese Übersexualisierung nun eine Obsession des Autors ist, auf Anthropologisches hinaus will oder einen Zug der Zeit illustrieren soll. Franzen, so scheint es, hat das Farcehafte im Blick, das noch in der Befriedigung Unbefriedigende: Was, das soll den ganzen Beziehungshickhack wert sein? Auch diese Szenen strahlen im Glanz seiner satirischen Intelligenz, die in politischen Dingen nicht weniger Gift versprüht: gegen den republikanischen Ungeist, gegen die Heiligsprechung Israels und gegen einen Konsumterror, der in Richards Predigt wider „den iPod als das wahre Gesicht republikanischer Politik“ ad absurdum geführt wird. Beträchtlicher Witz entsteht auch aus Walters Besessenheit von der Frage der Überbevölkerung, die er mit seinem ausgeprägten Familiensinn abgleichen muss.
Die einzige offensichtliche Schwäche ist der gefährliche Gleichklang von Pattys in der dritten Person abgefasster Autobiografie mit Franzens Erzählerstimme: So viel Selbsterkenntnis, so viel ausgleichende Gerechtigkeit für alle Beteiligten, kann nicht im Horizont einer Frau liegen, die von den Verhältnissen fast zerrupft wird. Beides jedoch liegt, und da hat Franzen wohl zu sehr an Flannery O’Connor gedacht, in seinem eigenen Horizont. Und da beginnt das, was man die Grenze dieses bewegenden, in seiner Unterhaltsamkeit sprühenden, sprachlich virtuosen Romans nennen muss.
Schon nach dem Erscheinen der „Korrekturen“ wurde diskutiert, ob Franzen nicht ein Realist des 19. Jahrhunderts sei. Mit dem augenzwinkernden Verweis auf Tolstois „Krieg und Frieden“, das Patty an einem Wendepunkt liest, hat er sogar eine trügerische Fährte gelegt. Tolstoi ist indes nur eine Folie über dem Geschehen, fast eine Metafiktion, wie der ganze Roman in seinen Formen vom Interview bis zur Autofiktion durchaus zeitgenössisch ist.
Es führt, weil ohnehin kein Mensch weiß, was Realismus ist, nirgendwohin, bei „Freiheit“ noch einmal über die Erzählbarkeit der Welt zu streiten, etwas, wofür es weder eine ästhetische Norm noch ein Verfallsdatum gibt. Zu streiten lohnt sich eher über das Verhältnis von Konvention und Radikalität.
Philip Roth schreibt über Körperliches ungleich grausamer, Franzens verstorbener Freund David Foster Wallace wesentlich schwärzer über das Neurotische der amerikanischen Gesellschaft. Franzen hat, nicht nur wegen seines Talents zum kinematografischen Erzählen, einen Zug ins Melodramatische, das nichts anderes als die bürgerliche Variante der Tragödie ist.
Er zeigt mit ausgeprägter Versöhnlichkeit, wie sich die same old story von Generation zu Generation fortzeugt. Kinder, die auf Distanz zu ihren Eltern gehen. Eltern, die an ihren Kindern wiedergutmachen wollen, was ihre eigenen Eltern an ihnen verbrochen haben. Ausbruchsversuche aus kriselnden Ehen. Anders als im klassischen Melodram gibt es bei Franzen aber keine wirklich Bösen. Alle Figuren sind es wert, gerettet zu werden, erlöst von der Hand eines Erzählers, der ihnen, wenn sie es am nötigsten haben, einen Sinnes- und Charakterwandel schenkt. Franzen folgt in dieser Hinsicht den bewährten Regeln einer zum Licht hin strebenden Dreiaktstruktur, nicht den finsteren Abwärtsspiralen einer Selbstzerstörung, die unter lauter Antidepressiva schluckenden Frauen, Alkoholikern und Drogenköpfen die Freiheit, die er meint, wohl überfordern würde.
Jonathan Franzen: Freiheit. Roman. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 730 Seiten, 24,95 €.
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