Interview: Jonathan Franzen: Die verdammte Frage der Geschlechter
Warum heißt es nicht „das Vogel“? Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen über die deutsche Sprache und seine Zeit in Berlin.
Ein verregneter Mittwoch in Berlin-Mitte. Im Flur von Jonathan Franzens Hotelapartment liegt ein Gitarrenkoffer. Vor ein paar Jahren hat er angefangen, zusammen mit seiner Lebensgefährtin Kathryn Chetkovich, sowie Schwager und Schwägerin in einer kleinen Band zu spielen. Richtung Countryrock, sagt er. Eine Reihe von Originalkompositionen, dazu gecoverte Songs von Bonnie Raitt, Jimmy Webb, Neil Young und Suzanne Vega. Am Abend spricht der New Yorker Autor des Welterfolgs „Die Korrekturen“ in der Temporären Kunsthalle bei den „Tagen der Auswärtigen Kulturpolitik“ über „Sex, Literatur und die deutsche Sprache“. Das Goethe-Institut und die Gemeinnützige Hertie-Stiftung haben ihn eingeladen, über das Thema, das ihn schon in seinem Erinnerungsbuch „Die Unruhezone“ bewegte, Auskunft zu geben. Vor über 20 Jahren hat der aus St. Louis stammende Amerikaner in München und Berlin Germanistik studiert. Das Gespräch findet in englischer Sprache statt – Franzen muss sein Deutsch für den Abend schonen. Schade, dass bei der Rückübersetzung verloren geht, welch schöne Ausdrücke es für „Lebensgefährtin“ gibt. Da sagt man nicht nur „my significant other“, sondern auch – wie Franzen – „my spouse equivalent“.
Mr. Franzen, wie würden Sie heute in einem Deutschtest abschneiden?
Gegen welche Konkurrenz? Ich möchte nicht die Verantwortung für die Formulierung eines Nuklearwaffenabkommens tragen, aber solange es darum geht, über mich selbst zu sprechen oder Literatur, komme ich ganz gut zurecht. Ich kann die „Süddeutsche Zeitung“ lesen, mit der ich als Student aufgewachsen bin, und verstehe fast alles. Die deutsche Sprache ist so wunderbar baukastenartig aufgebaut. Man kann gebeugte Verben auf ihre Grundform zurückführen. Man kann die kleinen unverständlichen Wörter ignorieren oder sie durch den Zusammenhang erschließen und die langen unverständlichen in ihre Bestandteile zerlegen.
Wo kommen Sie an Ihre Grenzen?
Unlängst bin ich auf das Wort „fauchen“ gestoßen: „Die Katze fauchte.“ Ich konnte mich nicht erinnern, es jemals gehört zu haben. Nur durch das Lautmalerische weiß ich ungefähr, was es bedeutet.
Können Sie auf Deutsch fluchen?
Kleinigkeiten wie „Verdammt noch mal“. Und natürlich kann ich „Arschloch“ brüllen. Aber mit Slang habe ich meine Probleme. Mein Deutsch stammt aus Büchern. Wie ich in der „Unruhezone“ erzähle, habe ich fast mein ganzes erstes deutsches Jahr in München damit verbracht, Englisch zu sprechen – mit amerikanischen Mädchen, denen ich nachgelaufen bin. Ich war schüchtern und habe mich mit keinem einzigen Deutschen angefreundet. Und als ich nach Berlin kam, bin ich zwar hin und wieder mit Kommilitonen ausgegangen. Die meiste Zeit aber habe ich rauchend und schreibend in meinem Zimmer verbracht. Erst in den letzten zwei, drei Jahren, seit ich regelmäßig nach Deutschland komme, habe ich ein paar deutsche Freunde gefunden.
Mark Twain hat in seinem Essay „The Awful German Language“ eine vernichtende Kritik der deutschen Sprache geliefert. Einiges daran ist schief, aber die Hemmungslosigkeit, mit der sich Deutsche für Substantivmonster wie „Generalstaatsverordnetenversammlungen“ begeistern, hat er ganz richtig gesehen. Was finden Sie am scheußlichsten?
Die verdammte Frage der Geschlechter. Warum heißt es „der Vogel“ und nicht „das Vogel“? Es schüchtert mich jetzt noch ein, so dass ich manchmal in der Mitte eines Satzes innehalte und mich nicht traue, einen Fehler zu machen. Auch unregelmäßige Pluralformen bereiten mir manchmal Probleme. Außerdem kommt mir die deutsche Sprache manchmal sentenziös vor. Sie neigt in ihrer verdinglichenden Art zu einer gewissen Vorschnelligkeit und Glätte. Aber vielleicht habe ich diesen Eindruck nur durch einige ihrer Sprecher gewonnen.
Können Sie Dialekte wie Bayerisch und Schwäbisch auseinander halten?
So einigermaßen. Auch Berlinerisch und Hamburgisch könnte ich wohl unterscheiden. Ganz sicher wäre ich mir aber nur bei Schweizerdeutsch.
Sind die sprachlichen Unterschiede in Amerika weniger ausgeprägt?
Der Unterschied zwischen Bayerisch und Hochdeutsch ist substanziell. In Amerika müsste man schon Louisiana mit New England vergleichen, um eine vergleichbare Spannweite zu finden. Es ist eher das Urban Black English, das sich so weit von der Hochsprache entfernt hat wie das Bayerische. Unser Regionalismus funktioniert anders. Wir haben eine Art ethnischen, keinen geografischen Regionalismus. Sonst ist alles eine Frage des Akzents. Und natürlich erfinden junge Leute permanent ihre eigene Sprache. Es entsteht auch ein Regionalismus durch Generationszugehörigkeit.
Gibt es Situationen, in denen Sie Deutsch mit sich selbst reden?
Beim Schreiben übersetze ich oft aus reiner Neugier meine Sätze ins Deutsche, um herauszufinden, wie sie klingen. Ich versuche herauszufinden, ob ein Satz seine Ironie und seinen Witz behält, ob er durchsichtig genug ist. Ansonsten spreche ich höchstens Deutsch, um Kathy zu ärgern und ihr weiszumachen, dass ein Fremder im Zimmer ist.
Lernt man eine Sprache am schnellsten, wenn man sich in jemanden verliebt, der sie spricht?
Ich glaube, das ist auf der ganzen Welt so. Man könnte das sogar von der eigenen Sprache behaupten. In den letzten zehn Jahren habe ich vor allem Kathys Sprache gesprochen. Es handelt sich natürlich um Englisch, aber bestimmte Teile davon sind mir dennoch nicht vertraut. Ich bemerke an mir selbst, wie ich ihre Art zu sprechen annehme.
In Berlin hatten Sie auch kein Glück bei Ihren deutschen Kommilitoninnen?
Da war ich schon verlobt und durfte eigentlich gar keine deutsche Freundin mehr haben. Ich habe dieses Verbot ziemlich ernst genommen. Als der DAAD zu Thanksgiving eine Party organisierte, unterhielt ich mich gerade mit einer ungeheuer attraktiven jungen Frau, und unsere verfluchte DAAD-Mutter kam auf uns zu und fragte mit voller Absicht: „Jonathan, wie geht's Deiner Verlobten?“
Vor zwei Jahren haben Sie Ihre Übersetzung von Frank Wedekinds Stück „Frühlings Erwachen“ veröffentlicht. Angeblich lag sie 20 Jahre lang in einer Schublade.
Ja, ich habe das Manuskript, für das ich als Student einmal 50 Dollar bekam, aber noch einmal gründlich überarbeitet und mich von meinem Freund Daniel Kehlmann und meiner Lektorin Ulrike Schieder beraten lassen. An manchen Stellen hat der Übersetzer gar keine andere Wahl, als eine Wahl zu treffen, etwa bei dem Wort „Schwindel“, das an einer zentralen Stelle vorkommt, kurz bevor Moritz Stiefel sich erschießt. Geht es hier um Unwohlsein oder Betrug?
Das Übersetzen macht Ihnen Spaß.
Ja, ich arbeite gerade an Aufsätzen von Karl Kraus. Mein Freund Daniel Kehlmann hilft mir dabei. Es gibt eine fast fertige Fassung von „Heine und die Folgen“ und eine weniger weit gediehene von „Nestroy und die Nachwelt“, die ich zur Seite legen musste, weil ich bis zum Jahresende einen Roman abgeben muss. Sonst bin ich ein toter Mann. Jeder Satz von Kraus ist für mich wie ein neues Kreuzworträtsel. Und manche Sachen wird man nie hinkriegen. Was heißt „Geist“ auf Englisch? Da ist man aufgeschmissen. Und Nestroy spielt mit allen Bedeutungsnuancen des Wortes.
Wie steht es mit Zeitgenössischem?
Der Stapel mit ungelesener deutscher Literatur wächst und wächst. Aber Daniel Kehlmanns „Ruhm“ habe ich zur Hälfte durch. Und ich bin umgeben von Stapeln amerikanischer Bücher. Ich könnte eher von Thomas Bernhard und Peter Handke erzählen oder von Günter Grass. „Beim Häuten der Zwiebel“ habe ich zwar auf Englisch gelesen, aber ich fand es aus einem starken inneren Bedürfnis heraus geschrieben, was man von vielen seiner vorherigen Bücher nicht unbedingt behaupten kann. Ich glaube, dass es hierzulande sehr ungerecht behandelt wurde.
Ist Grass nicht ein Vagheitsvirtuose? Er erinnert sich zwar genau, vernebelt aber alles mit Hunderten von Fragezeichen.
Gerade das fand ich liebenswert, ehrlich und tapfer. Wir halten eine solche Unklarheit nur nicht aus. Ich habe in der „Unruhezone“ den umgekehrten Weg eingeschlagen und versucht, jede Tatsache festzunageln. Aber so funktioniert Erinnerung nicht. Mir gefiel die ambivalente Atmosphäre: Ist das geträumt, oder ist es erinnert?
Heidegger hat Sprache als „Haus des Seins“ erklärt. Was für eine Art von Gebäude ist das Deutsche im Unterschied zum amerikanischen Englisch?
Das Bild, das mir für die deutsche Sprache in den Sinn kommt, gleicht einer jener riesigen chinesischen Fabriken, die dem Arbeiter alles bieten: ein Kino, einen Volleyballplatz, Schlafsäle – eine ganze Firmenstadt, in der alles vernünftig angeordnet ist. In den englischen Gebäuden, so kommt es mir vor, geht man viel seltener mit dem Staubsauger durch. Die Fenster werden nicht so oft geputzt, der Schmutz hängt in den Ecken. Vor allem das gegenwärtige Amerikanisch kommt mir vor wie ein großes unordentliches Studentenwohnheim.
Viele Deutsche klagen, dass das Englische ihre Sprache kolonisiert. Wer kolonisiert die englische Sprache?
Die Sorge, die man sich um das Englische machen muss, ist nicht Kolonisierung, es ist die Homogenisierung. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir noch viel mehr kolonisiert würden. Wir haben den Reichtum am Rande verloren. Ich höre zum Beispiel Indern und Pakistani beim Englischsprechen mit großer Begeisterung zu. Sie sind nicht so besorgt um Regeln wie wir.
Das Englische besitzt traditionell viele deutsche Lehnwörter – von Blitzkrieg und Weltschmerz bis zu Eigenwert und Kindergarten. Es gibt auch Französisches, aber warum kommt das Spanische nicht voran?
Wir exportieren so viele der Produkte, die eine neue Sprache nach sich ziehen: Filme, Musik, Computer. Wenn die Franzosen Microsoft Windows oder das Mobiltelefon entwickelt hätten, hätten wir heute vielleicht alles in Französisch. Das Altenglische geriet in Bedrängnis, als 1066 die Normannen in England einfielen und das Französische tonnenweise mitbrachten. Langfristig gesehen, war das sehr gut für das Englische als Literatursprache. Sie hat uns Geoffrey Chaucer beschert und William Shakespeare. Man sieht ungern, wie sich schöne Dinge verändern. Aber auf Dauer heißt es für jede Sprache: Verändere dich oder stirb!
Das Gespräch führte Gregor Dotzauer.
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