Roman von Shumona Sinha: "Kalkutta": Die Seele der Linken
Shumona Sinha ist ein - umstrittener - Star seit ihrer Prosa-Farce "Erschlagt die Armen!" über die europäische Asylpolitik. In „Kalkutta“ erzählt sie von Politik und Familie auf dem indischen Subkontinent.
Mit „Erschlagt die Armen!“, diesem Lehrstück aus der bürokratischen Unterwelt des europäischen Asylsystems, hat sich Shumona Sinha über Nacht einen Namen und in Frankreich, wo die aus Bengalen stammende Autorin seit 2001 lebt, nicht nur Anhänger gemacht. Mit der an Baudelaire gemahnenden Geschichte einer Dolmetscherin, der in einer Pariser Asylbehörde alle Begriffe von Recht und Empathie durcheinandergeraten und die am Ende einen Migranten erschlägt, hat Sinha die Hilflosigkeit und das Unbehagen an späteren Flüchtlingsdebatten vorweggenommen und absurd überspitzt.
In ihrem dritten Roman „Kalkutta“ wendet sich die 1973 geborene Autorin nun ihrer ehemaligen Heimat zu. Zwei Tage zu spät ist Trisha gekommen, um ihren Vater noch einmal zu sehen. In der Asche seines verbrannten Körpers findet sie nur noch seinen Nabel, „eine Blume, verdorrt, runzlig, hautfarben“, die „nicht gepflückt“ werden darf. Von der Ich-Perspektive in die dritte Person wechselnd, kehrt die Erzählerin in das Haus ihrer Kindheit zurück, in die „Räume mit den schweigenden Wänden“ und der unergründlichen Geometrie, in der die Vergangenheit aufbewahrt ist.
Der Vater sorgte für den westlichen Lebensstil
In diesen Räumen hat ihr Vater gegen alle Widerstände den westlichen Lebensstil eingeführt, ein Dasein fort vom Boden in die luftigen Höhen von Tischen und Schränken. Die Umwälzungen im Privaten sind ein vorläufiger Ersatz für den ersehnten Umsturz in dem von den Briten mehrmals geteilten und von Unabhängigkeitskriegen geprägten Land.
Shankhya ist Anhänger der jungen kommunistischen Bewegung Bengalens, ein Intellektueller, der in seiner Freizeit das ungebildete Volk belehrt und von ihm verehrt wird. Nur Urmila, seine schöne, an einer unerfüllten Liebe leidende junge Frau, die phasenweise in tiefer Melancholie versinkt, ist ein Hemmnis für die Familie. Sie passt nicht in die Welt der jungen Kommunisten und jagt ihrem Kind Angst ein: „Trishas Nächte waren mit den weißen Pillen ihrer Mutter versiegelt.“
Komplizierte Familienverhältnisse
Die Schwiegerfamilie wiederum nimmt es Shankhya übel, ihm dankbar sein zu müssen dafür, dass er Urmila überhaupt geheiratet hat. Und da gibt es auch noch die Shankhya ergebene Annapurna, seine Mutter, die ein Familiengeheimnis bewahrt. Die komplizierten Verhältnisse, in denen Trisha aufwächst, spiegeln sich in den turbulenten Ereignissen in Bengalen, von der kolonialen Besatzung über die kommunistische Periode seit Ende der siebziger Jahre bis zur Machtübernahme der rechten Opposition im Jahre 2011. Wie ihre Landsfrau Jhumpa Lahiri in „Tiefland“ fokussiert auch Sinha die Hoffnungen, die mit der KP zunächst verbunden sind. Der Auftrieb religiöser Sekten blamiert Shankhyas Glauben an das rationale Denken, zumal es die Partei nicht schafft, der Armut der Minderheiten in den Bergen zu begegnen: Er, der „stolze Bewohner Kalkuttas“, hatte „das Gefühl, gescheitert zu sein“ und zieht sich als enttäuschter Zweifler zurück.
All das erzählt Sinha nicht chronologisch, sondern assoziativ und poetisch anhand der Eindrücke und Gegenstände im Haus ihres Vaters. Da ist zum Beispiel dessen gut gehüteter Revolver, der ihn einst vor den Angriffen politischer Gegner schützte. Oder das Fläschchen mit Hibiskusöl, mit dem die Hausangestellten Urmilas Kopf massierten. Oder ihre alten Kinderbücher aus der Sowjetunion.
Bloß nicht in den "Clan der Witwen"!
Annapurnas Weigerung, sich nach dem frühen Tod ihres Mannes diesen „Klageweibern“ anzuschließen, im „Clan der Witwen“ unterzugehen, führt Trisha schließlich in die Generation der Großmütter und Urgroßmütter zurück, in die Herrenhauszeit der Kolonial-Ära und zu den bengalischen Mythen und Gottheiten. Diese bestimmten das Leben der Menschen ebenso wie die britischen Kolonialherren, und sich ihnen ganz zu entziehen, gelingt nicht einmal dem jungen wissenschaftsgläubigen Shankhya.
Wie in „Erschlagt die Armen!“ geht es Sinha weniger um vordergründige Politik, sondern um die sich durch sie herausbildenden Lebens- und Geschlechterverhältnisse. Und trotz des stellenweise fantasievollen Überschusses dieses Romans schwingt in ihm die leise Kritik an einer Kultur mit, „die den Körper ohne Zögern aufgab, ihn zurückließ, versenkte oder verbrannte“, gleichzeitig jedoch alles „vergötterte, was die Leute Seele nannten“. Man könnte die Seele vielleicht auch durch den Begriff Ideen ersetzen und einen Schlüssel bekommen für das Phänomen, warum die radikale Linke auf dem indischen Subkontinent in den siebziger Jahren besonders gewaltbereit in Erscheinung trat.
Shumona Sinha: Kalkutta. Aus dem Französischen von Lena Müller, Edition Nautilus, Hamburg 2016. 192 S., 19, 90 €. –
Sinha liest am Sonnabend, 10. September, 21 Uhr, im Haus der Berliner Festspiele
Ulrike Baureithel
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