Roman „,Erschlagt die Armen!“: Monolog einer seelisch Verrohten
In dem Roman „Erschlagt die Armen!“ stellt die Schriftstellerin Shumona Sinha die EU-Flüchtlingspolitik bloß. Ein brisantes Buch.
Die Tat ist ungeheuerlich. Ein Jahr lang arbeitet die namenlose Ich-Erzählerin von Shumona Sinhas Roman „,Erschlagt die Armen!“ als Dolmetscherin bei der Asylbehörde. Vorschriftsmäßig übersetzt sie „nach Tränen schmeckende Berichte“ von Hunderten von Flüchtlingen. Hört Erzählungen von Entbehrungen, Verbrechen und Gewalt, erlitten von Menschen, die sich Schleppern auf dem Weg ins gelobte Europa anvertrauen. Und dann schlägt ausgerechnet sie, die einst selbst aus ihrer Heimat floh, in der Metro einem Migranten eine Weinflasche über den Kopf. Warum nur? Ein Ausraster? Oder doch mehr?
Solchen Fragen versucht ein gewisser Herr K. nachzugehen, der die im Gefängnis sitzende Übeltäterin verhört. Doch je mehr die Erzählerin über ihre Wut auf Flüchtlinge spricht, desto klarer wird, dass nicht ihre Attacke der Skandal ist, sondern eine europäische Asylpolitik, die immer noch säuberlich zwischen politischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen unterscheidet. Als würden die Tränen der Armut weniger salzig schmecken als die Tränen der Repression. Doch da Europa nur jene Flüchtlinge als asylberechtigt anerkennt, deren Leben nachweislich durch Krieg oder Terror bedroht ist, bleibt allen anderen nichts weiter übrig, als den Beamten Lügen aufzutischen.
Nach Veröffentlichung des Buches verlor Sinha ihren Job
Die Folge ist eine unwürdige „Sprachengymnastik“, wie Shumona Sinha es formuliert, mittels derer Asylbewerber ihre Chancen zu verbessern suchen. Die bengalische Autorin, 1973 in Kalkutta geboren, weiß, wovon sie schreibt. Wie ihre Erzählerin hat auch Sinha, die 2001 für ein Literaturstudium an die Pariser Sorbonne kam, als Dolmetscherin für die französische Einwanderungsbehörde gearbeitet. Doch nachdem ihr mit dem Baudelaire-Vers „Erschlagt die Armen!“ betitelter Roman 2011 erschien, verlor sie ihre Stelle. Zu kritisch las sich ihr Bericht aus der asylpolitischen „Lügenfabrik“. Denn so blumig und metaphernreich Sinhas Erzählerin redet, so wenig Zweifel lässt sie daran, wie schnell Wahrheit, Gerechtigkeit und Respekt bei den Anhörungen auf der Strecke bleiben.
Wie ihre Kollegen glaubt sie, die Tricks der Armutsflüchtlinge zu kennen, die bei Schleusern keineswegs nur Pässe und Passagen ordern, sondern auch erfolgversprechende Gräuelgeschichten. Sie vermutet, dass viele Antragssteller sich eigens Zwiebeln und Chilischoten in die Tasche stecken, um Tränen zu erzeugen. Sie glaubt, dass Befragte Ärzte um gefälschte Atteste bitten, um Folterspuren nachweisen zu können. Und sie argwöhnt, dass so mancher männliche Flüchtling es darauf anlegt, schnellstmöglich eine Einheimische zu schwängern.
Kein Wunder, dass ihr Übersetzerjob bei so viel Vorbehalten vor allem darin bestand, „Fragenpfeile“ abzuschießen, ihren bengalischen Landsleuten auf den Zahn zu fühlen, sie in Widersprüche zu verstricken und „ihnen die Wörter wie heißes Wasser über die fassungslosen Köpfe zu schütten“. Stolz berichtet die Verhörte, wie sie einmal einen angeblich verfolgten Christen in die Enge trieb, indem sie ihn nach den drei Besuchern bei Jesu Geburt fragte. „Ich war sehr beschäftigt“, stammelte der Mann nur noch, „ich habe nicht gesehen, wer Jesus besucht hat.“ In solchen Momenten, bekennt die Ex-Dolmetscherin, habe sie sich gefühlt „wie eine Krankenschwester, die gleich die Sauerstoffzufuhr bei einem im Sterben liegenden Patienten abschaltet.“
„Ich schreibe, wie man spuckt.“
Spätestens bei solchen Sätzen rinnt es einem eiskalt den Rücken hinunter. Hat Sinha doch die Chuzpe, ausgerechnet einer der Armut entflohenen Migrantin dieselben fremdenfeindlichen Ressentiments in den Mund zu legen, die auch viele EU-Bürger hegen. Sie betrachtet ihre Klienten mit Misstrauen, ja blanker Verachtung. Für sie sind es „Zwerge“, „ungeliebte Quallen“, „Eindringlinge“ oder sogar „der Parasit am Körper des Wirts“. Und sie ist froh, dass Tränen, Narben und Leidensberichte sie nicht mehr anrühren. Einmal, erklärt die Erzählerin, habe sie einer jungen Frau zur Asylbewilligung verholfen, die ihr zum Herzerweichen schilderte, wie sie gleich zweimal Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde. Zunächst war die Dolmetscherin von ihrer „guten Tat“ überzeugt. Dann aber traf sie Kollegen, die ihr versicherten, auf einen Fake hereingefallen zu sein. Schließlich wisse doch jeder, dass man mit Vergewaltigung besonders leicht Mitleid errege.
„Erschlagt die Armen!“ ist der Monolog einer seelisch Verrohten, der zeigt, was eine Asylgesetzgebung anzurichten vermag, die Immigranten von vornherein als potenzielle Betrüger einstuft. Während die Antragssteller gezwungen sind, ihr Elend dramatisch aufzubauschen, werden die „Entscheider“ dazu angehalten, hinter jeder Behauptung eine Lüge zu wittern. Das Resultat ist emotionale Abstumpfung auf beiden Seiten, für die Sinha eine ungewöhnlich lyrische, expressive und manchmal leider allzu bildverliebte Sprache wählt. Da quillt dann schon mal „das Hirn über wie ein Mülleimer“, tropft „Regen wie Katzenhaare“ oder „schwappt der Schmerz bei jeder Bewegung wie siedendes Öl“. Die Autorin selbst hat ihren Stil einmal so charakterisiert: „Ich schreibe, wie man spuckt.“ Sprachlich mag sie dabei nicht immer ins Schwarze treffen. Trotzdem ist ihr zweiter Roman ein brisantes Buch, das die Scheinheiligkeit heutiger Flüchtlingspolitik schonungslos offenlegt.
Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller. Edition Nautilus, Hamburg 2015. 127 Seiten, 18 €.
Gisa Funck