"Nemo" von Alan Moore: Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Zwei neue Comics suchen Inspiration bei Horrorgroßmeister H. P. Lovecraft – kommen allerdings zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Während Alan Moore sich in „Nemo – Heart of Ice“ einmal mehr im großen Zitateraten versteigt, amüsiert „Deadbeats“ mit einer Hauruck-Zombiegeschichte.
Das ewige Eis ist in der Regel kein angenehmer Aufenthaltsort für den Menschen mit seinen 37 Grad Körpertemperatur. Nicht selten endet eine Polar-Expedition deshalb im Desaster. Das gilt für die Wirklichkeit - man denke nur an die traurigen Schicksale von Salomon August Andrée oder Robert Falcon Scott – aber auch für die Fiktion, wie uns unter anderem Christoph Ransmayrs „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ oder Lovecrafts „Berge des Wahnsinns“ mahnen.
Letztgenannte Novelle hat Comicautor Alan Moore nun zur Inspiration für sein neues, kürzlich auf Englisch erschienenes Buch herangezogen. „Nemo – Heart of Ice“, so der Titel, läuft zwar nicht unter dem offiziellen „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“-Banner, könnte dies aber problemlos tun. Die Parallelen sind deutlich: Zum einen ist da die Hauptfigur Janni, die bereits in „Century: 1910“ auftauchende Tochter von Captain Nemo, und wie die übrigen Bände der Reihe strotzt auch dieses Buch vor Anspielungen und Querverweisen auf die Populärkultur.
Die Zitate sind wieder immer ausschweifend und zeugen von der manischen Belesenheit des Autors. Wer will, kann den Erzählfluss von „Heart of Ice“ mit Joseph Conrads „Heart of Darkness“ vergleichen, es tauchen Figuren aus H. Rider Haggards Abenteuerprosa auf, Orson Welles „Citizen Kane“ wird zitiert und wer aufmerksam hinschaut, wird sogar Dashiell Hammetts „Malteser Falke“ auf einer Kommode herumstehen sehen. Für alle Besessenen betreibt Jess Nevins in seinem Blog mal wieder eine ausführliche Bild-für-Bild-Exegese.
Allerdings sind die wenigsten der Zitate entscheidend für oder auch nur Teil der Handlung, die so schnell erzählt wird, wie sie schnell erzählt ist: Janni folgt im Jahr 1925 den Spuren einer Expedition ihres Vaters zum Südpol. Warum, wird nicht so wirklich klar, auch nicht, was das alles mit den Verfolgern zu tun hat, die sich an ihre Fersen heften. Auf gerade einmal 56 Seiten bleibt nicht viel Platz für Charakterentwicklung, und so beschleicht einen wie schon bei den letzten „Liga“-Bänden der Verdacht, dass Moore inzwischen mehr daran gelegen ist, einen großen Metawitz zu komponieren, als mit einer packenden Geschichte zu überzeugen.
Gemessen an dem vorangegangenen und schwer zerfahrenen „Century: 2009“ ist „Nemo“ allerdings immerhin ein kurzweiliger Spaß geworden, der dank der gewohnt meisterhaft rau und gleichzeitig knallbunten Bilder von Kevin O'Neill, der hier ein paar wirkliche eklige Panoramen von schleimigen Monstern entworfen hat, schaurig-schön anzuschauen ist. Das tröstet freilich nicht darüber hinweg, dass „Nemo“ im großen und ganzen doch etwas aufgeblasen und überfrachtet wirkt.
Trompeten und Tentakel
Herrlich unaufgeregt gestaltet sich da im direkten Vergleich die Lektüre von „Deadbeats“. Vor kurzem beim Verlag „Self Made Hero“ erschienen, erzählen Chad Fifer und Chris Lackey, die Betreiber des H. P. Lovecraft Literary Podcasts, darin eine Lovecraft-inspirierte Zombie-Räuberpistole aus dem Chicago des Jahres 1924.
Ihr Ausgangspunkt ist nicht nur in zeitlicher Hinsicht ein ähnlicher wie Moores: Auch hier befinden sich die Protagonisten, eine Jazzband, auf der Flucht. Allerdings nicht vor verrückten Wissenschaftlern, sondern vor mordlüsternenen Mafiosi. Ansonsten gibt es alles, was der Horror-Fan kennt und schätzt: Wahnsinn, Seelenwanderung, Untote, verschrobene Landeier, schwer aus dem Ruder laufende Beschwörungen, zwielichtige Frauen, dazwischen immer wieder ein cooler Spruch.
Freilich: Mit Lovecrafts „kosmischem Grauen“, das ein im Angesicht der Unendlichkeit des Kosmos mit seiner eigenen Nichtigkeit konfrontiertes Individuum befällt, hat das alles recht wenig zu tun. Trotz Tentakelmonstern stand hier eher George A. Romeros „Die Nacht der lebenden Toten“ als Lovecrafts apokalytische Science-Fiction Pate. Auch die Plots von Pen-&-Paper-Rollenspielen fallen einem beim Lesen ein: Allen voran „Dead Man Stomp“, der von einer verfluchten Trompete erzählende Szenario-Klassiker aus dem Spiel „Call of Cthulhu“, den die beiden verantwortlichen Lovecraft-Fans mit ziemlicher Sicherheit gespielt oder gelesen haben dürften.
Wäre das alles bierernst gemeint, wäre „Deadbeats“ wohl furchtbar vor die Wand gefahren. Doch der ironische Ansatz der Autoren ist deutlich erkennbar und macht das Buch zu einer vergnüglichen Lektüre. Das ist auch ein Verdienst von Zeichner I.N.J. Culbard, der bereits die Lovecraft-Geschichten „Der Fall Charles Dexter Ward“ und „Berge des Wahnsinns“ illustrierte und hier trotz relativ detailarmer Zeichnungen mit kleinen Witzen wie Tintenfisch-Wandmasken oder der Ausgestaltung der freakigen Landbevölkerung, der die fliehenden Musiker begegnen, mit sichtlicher Freude bei der Sache ist.
Nihilistische Lovecraft-Puristen mögen das frevlerisch finden, doch wer Spaß an postmodernem B-Movie-Horror hat, wird sich von „Deadbeats“ gut unterhalten fühlen.
Alan Moore & Kevin O'Neill: „Nemo – Heart of Ice“, Top Shelf (Import), 56 Seiten, 12 – 15 Euro
Chad Fifer & Chris Lackey & I.N.J Culbard - „Deadbeats“, Self Made Hero (Import), 128 Seiten, 14 - 18 Euro
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