H. P. Lovecraft Biographie: Cthulhus lange Tentakel
Der Name H. P. Lovecraft ist den meisten kein Begriff. Dabei prägt der Autor von Horrorgeschichten seit mehr als 80 Jahren unsere gesamte Popkultur - von Rockmusik, über Hollywoodfilme bis hin zu Lego-Bausätzen.
Der Legende nach begann alles mit einer Platte verdorbener Meeresfrüchte. Dass uns heute aus dem Kino, aus Comics, von Plattencovern und sogar aus den Schachteln von Lego-Bausätzen Tentakel entgegenschlagen, liegt einzig und allein daran, dass ein sensibler Sonderling aus Neu-England vor mehr als einem Jahrhundert mal etwas Falsches gegessen hat. Der nervöse Magen H. P. Lovecrafts trägt die Schuld, dass fangarmgesichtige Monster und fischiger Schleim heute nicht nur in Horror-, sondern auch Familienfilmen wie „Fluch der Karibik“ Symbole des absolut Fremden sind.
Wann und wo und was Howard Phillips Lovecraft damals genau gegessen hat, konnte keiner seiner Biografen später rekonstruieren. Nur dass er sich zeit seines Lebens nicht mehr von der entstandenen Übelkeit erholte, ist gesichert. „Von frühester Jugend an war mir jede Form von Fisch, Weich- oder Krustentieren ein Brechmittel“, schreibt Lovecraft in einem seiner Briefe.
Aus genau diesem Ekel gebar der Hobby-Schriftsteller, als er sich in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts daran machte, die moderne Horrorerzählung zu revolutionieren, das, was heute als „Cthulhu-Mythos“ bekannt ist. In gut 40 Kurzgeschichten und einem Dutzend längeren Erzählungen entwarf er einen Kosmos, der von gewaltigen, uralten Wesen beherrscht wird und in dem der Mensch nicht mehr als eine unbedeutende Randerscheinung darstellt. Eine Welt, in der, wie der französische Schriftsteller Michel Houellebecq in seiner Lovecraft-Biografie „Gegen die Welt, gegen das Leben“ schreibt, das Leben keinen Sinn hat: „Aber der Tod auch nicht.“
Von Edgar Allen Poe zu den Simpsons
Lange Zeit vom Literaturbetrieb ignoriert oder wegen seines mitunter „byzantinisch“ genannten Adjektivismus verlacht, gilt Lovecraft heute neben Edgar Allen Poe als wichtigster Vertreter der amerikanischen Fantastik. Seine Werke wurden mit einer Aufnahme in die Library of America geadelt, und Kollegen wie der amerikanische Schriftsteller Fritz Leiber feiern Lovecraft als „literarischen Kopernikus“.
Dass Sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Namen Lovecraft noch nie gehört haben, ist trotzdem gut möglich. Horror ist nach wie vor Spartenliteratur. Dass Sie allerdings noch nie mit einer seiner Schöpfungen in Kontakt gekommen sind, ist höchst unwahrscheinlich. Denn Lovecrafts Monster, seine unheiligen Bücher und Stätten haben wie kaum ein anderer literarischer Kosmos nicht nur das Horrorgenre, sondern mal dominant, mal unterschwellig die gesamte Popkultur beeinflusst. Bis heute.
Man vergleiche nur einmal die Figuren Dr. Zoidberg aus „Futurama“ und Captain Davy Jones aus den „Fluch der Karibik“-Filmen mit dem Monster auf dem Cover der Vangelis-Platte „Dragon“. Unschwer sind die drei tentakelgesichtigen Kreaturen als Brüder zu erkennen. Ihr Vater ist: Cthulhu. Jenes Zerrbild eines „Tintenfisches, eines Drachen und der Karikatur eines Menschen“, das Lovecraft in der Geschichte „Cthulhus Ruf“ aus dem Jahre 1926 beschreibt.
In der Fernsehserie „Die Simpsons“ lesen Kraftwerkbesitzer Montgomery Burns und der Politiker Bob Dole bei einem Treffen der Republikanischen Partei aus dem von Lovecraft erdachten „Necronomicon“. Jenem blasphemischen Buch, nach dem der Schweizer Maler H. R. Giger einen Bilder- und der Avantgardemusiker John Zorn einen Musikzyklus benannt hat, und das die deutsche Indie-Band Tocotronic in dem Song „Das böse Buch“ besingt. In Batmans Heimatstadt Gotham City steht das Hochsicherheitsgefängnis Arkham Asylum – benannt nach der fiktiven Stadt in Massachussetts, die Lovecraft zum Schauplatz vieler seiner Geschichten machte. 1966 begegnete Captain Kirk in der Star-Trek-Episode „Der alte Traum“ auf einem Eisplaneten den Resten einer untergegangenen Kultur, die als „The Old Ones“ bezeichnet werden. Die Parallelen zu den „alten Wesen“, die Lovecraft in der am Südpol spielenden Geschichte „Berge des Wahnsinns“ beschreibt, sind überdeutlich. Diese Geschichte, die in diesen Tagen ihren 80. Geburtstag erlebt, hätte eigentlich noch in diesem Jahr von Guillermo del Toro und James Cameron verfilmt werden sollen – wäre das Studio Universal nicht in letzter Minute vor einer Investition von 150 Millionen Dollar in einen Horrorfilm zurückgeschreckt. Zahllose Computerspiele wie „Alone in the Dark“ oder „Doom“ zitieren Lovecraft. Das erfolgreiche Rollenspiel "Call of Cthulhu" macht seine Geschichten nachspielbar. Im Repertoire der Band Metallica findet sich ein Song Namens „The Call of Ktulu“. Derselbe Cthulhu, nachdem Umberto Eco einen der Verschwörer in seinem Roman „Das Foucaultsche Pendel“ mit den Worten „Iä! Cthulhu! Iä! S’ha-t’n!“ schreien lässt. Kurz: Ein Dreivierteljahrhundert nach seinem Tod im März 1937 ist Lovecraft – überall!
Keine schlechte Leistung für einen Autor, der zu Lebzeiten so gut wie unbekannt war, der in Groschenheften veröffentlichte und seine Mini-Autobiografie mit dem Titel „Einige Anmerkungen zu einer Null“ überschrieb. „Mein Leben ist so still, so ereignislos, so unauffällig verlaufen, dass es zu Papier gebracht bestenfalls erbärmlich glanzlos und fade erscheinen muss“, befand er darin. Selten hat sich jemand derart geirrt.
Der Wahnsinn tritt in Lovecrafts Leben
Howard Phillips Lovecraft wurde am 20. August 1890 in Providence in Rhode Island geboren. Der Wahnsinn trat in sein Leben, als er drei Jahre alt war und sein Vater mit Wahnvorstellungen in die Psychiatrie überwiesen wurde. Als er fünf Jahre später starb, lautete die offizielle Todesursache „allgemeine Parese“ – ein Euphemismus für Syphilis.
Lovecraft blieb bei seiner Mutter Sarah Susan Phillips, die den Jungen in seinen ersten Jahren in Mädchenkleidung steckte, ihm Locken wachsen ließ und einredete, er sei hässlich. „Seine Mutter war depressiv, herrschsüchtig und hilflos, eine Neurotikerin hart an der Grenze zum Wahnsinn, die schließlich im März 1919 im Butler Hospital Aufnahme fand, wo sie zwei Jahre später an geistiger und psychischer Erschöpfung starb“, so beschrieb sie August Derleth, Lovecrafts selbst ernannter Nachlassverwalter, der 1939 den Verlag Arkham House gründete, um die Werke seines Freundes zu verlegen. Ohne ihn wäre Lovecraft wohl so unbekannt geblieben wie Kafka ohne Max Brod.
Die Schule besuchte Lovecraft wegen seines oft kränklichen Gesundheitszustandes nur selten. Stattdessen fraß er sich, nachdem er mit vier Jahren Lesen gelernt hatte, in der Bibliothek seines Großvaters durch „Grimms Märchen“, die Geschichten aus „1001 Nacht“, antike Sagen, aber auch zunehmend chemische, geografische und astronomische Fachbücher. Ermutigt von seinem Großvater schrieb er Gedichte und unheimliche Erzählungen.
Als dieser 1904 verstarb, verlor die Familie nicht nur einen Großteil ihres Vermögens, sondern auch Haus und Bibliothek. Ein Schlag, von dem sich Lovecraft erst nach einer fast zehn Jahre dauernden Phase der Lethargie befreien konnte, als er sich 1914 der United Amateur Press Association (UAPA) anschloss. Einem Verband von Hobby-Schriftstellern, der in Lovecraft die Lust an fantastischer Literatur neu entfachte. Dass es ausgerechnet dieses Genre war, das ihn, der weder an Gott noch okkulten Hokuspokus glaubte, faszinierte, erklärt Lovecraft in seinem Essay „Anmerkungen zum Schreiben unheimlicher Erzählungen“ so: „Einer meiner stärksten und nachhaltigsten Wünsche ist es, die Illusion wenigstens vorübergehend einmal zu erreichen, dass die ärgerlichen Beschränkungen von Zeit, Raum und Naturgesetz, die uns ständig einkerkern und unsere Wissbegier über die unendlichen kosmischen Räume jenseits unseres Blickfeldes und unserer analytischen Fähigkeiten zunichtemachen, aufgehoben und gesprengt sind.“
Mehr als einen kultivierten Zeitvertreib sah Lovecraft trotz stetig zunehmender Geldnot im Schreiben aber nie. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Literatur kein rechter Beruf für einen Gentleman ist, und dass man das Schreiben allenfalls als eine elegante Fertigkeit betrachten sollte“, erklärte er einmal.
Mit Freunden und Kollegen kommunizierte Lovecraft hauptsächlich per Post. Sein Biograf S.T. Joshi geht davon aus, dass Lovecraft zeit seines Lebens mehr als 80 000 Briefe geschrieben haben muss. Viele davon enthüllen antisemitische und auch in einigen Geschichten erkennbare rassistische Überzeugungen, für die sich der ältere Lovecraft immerhin geschämt haben soll: „Gelegentlich löschen Hände verstohlen und unvermittelt das Licht und ziehen den Vorhang herunter, und dunkelhäutige von Sünde zerfressene Gesichter verschwinden von Fenstern, wenn Besucher des Weges kommen“, heißt es beispielsweise in „Das Grauen von Red Hook“. Die Geschichte schrieb Lovecraft, nachdem er geheiratet hatte und mit seiner Frau in die Nähe dieser New Yorker Gegend gezogen war.
Die Erfindung Cthulhus
Die Ehe scheiterte bereits nach zwei Jahren und 1926 kehrte Lovecraft zurück nach Providence. Dort überarbeitete er Geschichten von Kollegen, schrieb Briefe und ernährte sich von kalten Dosenbohnen, Süßigkeiten und Unmengen gesüßten Kaffees. In diesen Jahren der Armut jedoch entstanden die Geschichten, denen er heute seinen Ruf verdankt: „Der Fall Charles Dexter Ward“, „Das Grauen von Dunwich“, „Berge des Wahnsinns“, „Schatten über Innsmouth“ und allen voran „Cthulhus Ruf“.
In ihnen findet sich die Quintessenz Lovecrafts Schaffens, für das er selbst den Begriff „kosmischer Schrecken“ geprägt hat. Wiederkehrendes Motiv dieser Mythos-Geschichten ist die Vorstellung, die Welt sei in der Urzeit von Wesen aus dem All beherrscht worden, deren Hinterlassenschaften oder die selbst noch immer in den Tiefen der Erde und der Ozeane begraben liegen. Kategorien wie Gut oder Böse gibt es bei Lovecraft nicht. Die Monstren sind keine Feinde des Menschen, sondern trampeln einfach über ihn hinweg wie wir über Ameisen. Der Mensch ist in seinen Geschichten der unbedeutende Fremdkörper, als den er sich selbst im Leben wohl wahrgenommen hat. Häufig wurde kritisiert, seine Protagonisten seien blasse, austauschbare Außenseiter – das ist richtig. In Lovecrafts Kosmos aber ist das keine Folge schriftstellerischen Unvermögens, sondern Teil des Programms.
Für Marco Frenschkowski speist sich genau aus diesem Schwerpunkt die anhaltende Faszination für Lovecrafts Werke. Der evangelische Theologe ist Herausgeber der kommentierten, inzwischen 13-bändigen deutschen HPL-Gesamtausgabe in der Edition Phantasia. „Lovecrafts Bedeutung als Autor liegt darin, dass er mit großer Leidenschaft ein Thema in den Mittelpunkt stellt, das bei anderen Autoren höchstens am Rande vorkommt“, sagt er. Liebe, Erwachsenwerden, Freundschaft, Sex: Die großen Inhalte aller Erzählungen der Menschheit tauchten bei ihm kaum auf. „Sein Thema ist die Irritation menschlicher Identität. Die Frage: Was ist der Mensch im Angesicht des Ganzen?“
Ein durchaus modernes Thema, wie er findet. Und vielleicht war die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit tatsächlich nie größer als in Zeiten, in denen Menschen sich für 15 Minuten Ruhm freiwillig den entwürdigenden Mechanismen einer Castingshow unterwerfen.
„Heute weiß jeder, dass der Kosmos unendlich und der Mensch nur ein Staubkorn in der Schöpfung ist“, sagt Frenschkowski. Dieses Wissen aber werde im Alltag permanent ausgeblendet. Lovecrafts Werk sei deshalb nach wie vor so verstörend, weil es uns helfe, dieses Wissen in unserer Vorstellung zu realisieren. Hier wird der Schrecken des Daseins als solchem spürbar, wenn es nicht nur in seinen Facetten, sondern seiner bedeutungslosen Gesamtheit betrachtet wird.
Die Reaktion auf diese Erkenntnis ist bei Lovecraft stets die Kapitulation. „Die Wissenschaften – deren jede in eine eigene Richtung zielt – haben uns bisher wenig gekümmert“, schreibt er in „Cthulhus Ruf“. „Aber eines Tages wird das Zusammenfügen der einzelnen Erkenntnisse so schreckliche Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, dass wir durch diese Enthüllung entweder dem Wahnsinn verfallen oder aus dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters fliehen werden.“
Schrecken jenseits der Naturgesetze
Laut dem amerikanischen Philosophie-Professor Dirk Walter Mosig erzielt Lovecraft seine Wirkung vor allem aus dem Zusammenprall akkurater wissenschaftlicher Beschreibungen und dem Übertreten von Naturgesetzen – den letzten allgemeingültigen Maßstäben einer Welt, der zunehmend moralische Maßstäbe und Orientierung abhandenkommen. „Geht man bei einer Gruselgeschichte mit extremem Realismus zu Werke, gelingt der unerlässliche Rahmen der Glaubwürdigkeit viel eher, denn erscheint in der Story alles natürlich und glaubhaft, wird man geneigt sein, in dem unnatürlichen Element ein Abweichen von der erwarteten Realität zu sehen, das sich in einer realen Welt ereignet“, schreibt er in dem Aufsatz „Lovecraft, der Dissonanzfaktor in der fantastischen Literatur“.
Diesen Realismus treibt Lovecraft mitunter bis zum Exzess. So liegt Cthulhus versunkene Heimstätte R’lyeh nicht einfach irgendwo im Pazifik, sondern bei „47° 9’ südlicher Breite und 126° 43’ westlicher Länge. In den „Bergen des Wahnsinns“ beschreibt er über Seiten hinweg die Ausrüstung der Südpol-Expedition, architektonische Details und die im Eis gefundenen monströsen Körper. „Lovecraft will kein Visionär sein, sondern ein Chronist des Grauens“, schrieb der italienische Schriftsteller und Kritiker Giorgio Manganelli folgerichtig.
Erzeugt wird dieser Realismus nicht nur durch eine Ansiedlung der Geschichten im Alltäglichen, sondern auch durch eine wiederkehrende Bezugnahme auf erfundene wie echte Bücher, Orte, Monster und Personen. Im Ergebnis erzeugt das eine beklemmende Geschlossenheit und Glaubwürdigkeit – nicht wenige Spinner befinden sich auch heute noch auf der Suche nach einem wahren „Necronomicon“.
Eine Vielzahl von Schriftstellern hat diese Bausteine benutzt und den Mythos fortgeschrieben: Stephen King, Alan Moore, Mike Mignola, Neil Gaiman, Jorge Luis Borges oder auch Arno Schmidt, der Lovecrafts Geschichten in „Julia, oder die Gemälde“ verwendete, trugen seinen Namen und den seiner Kreaturen weiter. Bis in unsere Zeit.
Der Lieferant von Monstren und Mythen
Allerdings trennt der Theologe Frenschkowski stark zwischen Lovecraft und der Fülle von den ihn zitierenden Werken, denen wir gegenwärtig in der Popkultur begegnen. „Wenn heute Lovecrafts Wesen oder Erfindungen zitiert werden, dann hat das in den seltensten Fällen etwas mit seinen Themen zu tun“, sagt er. Stattdessen habe sich sein Werk durch die ständige Fortschreibung zunehmend verselbstständigt. Sein Erfolg mache ihn zu einem beliebig austauschbaren Baustein in einem Fantasy-Universum. „Lovecraft dient heute also häufig nicht als literarisches Vorbild, sondern nur als Lieferant von Monstren und Mythen.“ Mit dem religiös oder - wie Franz Rottensteiner, Lovecrafts langjähriger Herausgeber bei Suhrkamp, sagt – im Sinne unterdrückter Sexualität psychoanalytisch interpretierbaren „kosmischen Schrecken“ hätten die eingangs erwähnten Filme und Serien in der Regel wenig zu tun. Lovecraft hätte das ähnlich gesehen: „Ich sollte niemals zulassen, dass irgend etwas, das meine Unterschrift trägt, für die Art infantilen Geschwätzes banalisiert und popularisiert wird, das als ,Horrorgeschichte’ deklariert, dem Radio- und Kinopublikum vorgesetzt wird“, schrieb er einmal. Die Ästhetik eben dieser Kultur aber prägt Howard Phillips Lovecraft bis heute maßgeblich.
Als er 1937, zerfressen von Darmkrebs, still und klaglos starb, tat er es in dem Glauben, nichts erreicht zu haben. Wie gesagt, selten hat sich jemand derart geirrt.
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