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Kommentar auf die Flüchtlingskrise, Befragung nach der menschlichen Existenz: Shiotas neue Installation lässt viele Deutungen zu.
© Sunhi Mang

Chiharu Shiota in der Galerie Blain Southern: Die rote Reise

Ein blutrotes Meer aus Polyacryl: Die neue Installation der Berliner Künstlerin Chiharu Shiota entfaltet eine Faszination, der man nicht entkommen kann.

So also sieht es aus, wenn man vom eigenen Erfolg überrollt wird. Das Image, das Chiharu Shiota in ihrer ersten großen Soloschau für die Galerie Blain Southern kreiert hat, ist im Netz omnipräsent. Wer immer die Ausstellung besucht, postet anschließend ein Foto über die sozialen Netzwerke. „Uncertain Journey“ überwältigt selbst noch im kleinen Format des Handy-Displays: Große Boote aus Metall liegen im Raum, darüber spannt sich ein Meer aus roten Fäden.

Gemeinsam mit mehreren Assistenten hat die aus Japan stammende Künstlerin Shiota die Wolle tagelang verknüpft. Auf Hubwagen schraubten sie sich Meter für Meter in die Höhe, um aus den Knäueln eine dreidimensionale Zeichnung wachsen zu lassen - blutrote Linien aus Polyacryl. Ein Material, das man nicht auf der Haut tragen möchte. Im Raum aber entfaltet der leuchtende Faden eine Faszination, der man nicht entkommen kann.

Für die Künstlerin wie für die Galerie ist das frei flottierende Motiv eine gute Werbung. Prinzipiell. Es sei denn, man verwechselt die digitale Ansicht mit einem Besuch. Das nämlich funktioniert bei Shiota nicht: Ihre Installation braucht die physische Anwesenheit, die Bewegung im Raum, das Multiperspektivische. Ansonsten bleibt das Bild, bei aller visuellen Eindringlichkeit, eindimensional wie die Botschaft, die sich pur aus dem Titel schält: „Unsichere Reise“.

Die Installation berührt Fragen der Existenz

Mit den roten Wellen und den gesunkenen Booten schnurrt das Werk auf den Appell zusammen, die Fliehenden im Mittelmeer nicht zu vergessen. Dass Shiotas Arbeiten angesichts weiterer Motive wie Schlüssel, Schuhe, Betten oder Koffer stets mit den Themen Flucht und Verlust zu tun haben, liegt nahe. Und doch greift diese Interpretation zu kurz. „Uncertain Journey“ berührt Fragen der Existenz. Eine Einsicht, die allerdings nur gewinnt, wer sich in das Labyrinth der Künstlerin begibt.

Shiota, Jahrgang 1972 und seit fast zwanzig Jahren in Berlin zu Hause, hat die Fäden in Rot und Schwarz zu ihrem Markenzeichen gemacht. Wenn sie wie zu Beginn ihrer künstlerischen Karriere Kleider und Stühle einspinnt, wird aus dem alltäglichen Gegenstand ein vieldeutiges Objekt - verwoben in einem Netz aus Erinnerungen, die von den Fäden symbolisiert werden. Kreuz und quer verlaufen diese Spuren, Persönliches mischt sich mit kollektiven Symbolen: die Koffer, die Schlüssel, das Bett als Ort der Geburt und des Sterbens.

Im Detail legt Shiota sich nicht fest, sondern schafft raumgreifende Installationen, in denen man diese Verbindungen assoziativ erspüren kann. Mit ihnen ist die stille, zurückhaltende Künstlerin ein Star geworden. Jüngste Auftritte wie 2015 auf der Biennale von Venedig oder im „Art Unlimited“-Sektor der Kunstmesse Art Basel vor einigen Monaten erzählen von der Aufmerksamkeit, die ihre großen Verspannungen bekommen. Obwohl die eingesetzten Objekte auch gefährlich mit Bedeutung überfrachtet sind.

Vieldeutiges Symbol

Die Künstlerin hat keine Angst vor solchen Interpretationen. Für sie sind die Dinge, die sie umgeben, beseelt. Und wenn man genau zuhört, erzählen sie Geschichten. In den späten neunziger Jahren führte Shiota Performances mit Erde und dem eigenen Blut auf, um Themen wie Herkunft oder Identität eine sinnliche Ebene zu geben. Von hier aus ist es ein kleiner gedanklicher Sprung zu den blutroten Fäden und ihrer Vernetzung mit dem Ergebnis schwereloser, temporärer Luftskulpturen. Sie symbolisieren nicht bloß ein tosendes Meer, sondern auch das Innere des menschlichen Körpers, die Blutgefäße ebenso wie die neuronalen Verbindungen des Gehirns.

Dass zwischen diesen Verflechtungen auch Boote navigieren, die unter normalen Umständen sofort sinken würden, gehört zu den kleinen, nachhaltigen Störungen im Bild. Sie unterlaufen den Eindruck der Introspektion, lassen das rote Geflecht zu Wassermassen werden und die Boote zum Symbol einer Lebensreise. Sie tauchen seit Jahren als wiederkehrendes Element auf, zuerst aus Holz und nun aus Metall, das die Rümpfe wie skelettiert aussehen lässt.

Sie selbst, erzählt Chiharu Shiota in der Galerie, erkenne in dem Fadengespinst auf dem Kopf stehende Wellen. Folgt man ihrer Deutung, tanzen die Boote plötzlich auf dem Meer - immer noch kopfüber, aber mit einer Leichtigkeit, die aus der bedrohlichen Szenerie eine vielstimmige Reflexion über die eigene Existenz macht.

Galerie Blain Southern, Potsdamer Str. 77-87; bis 12.11., Di-Sa 11-18 Uhr

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