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Netzwerkerin. Shiota macht eine Infusionspumpe zur Kunst.
© Doris Spiekermann-Klaas
Update

Chiharu Shiota: Zeichnen mit Wollfäden

Bei ihr werden Räume zu Spinnennetzen: die japanische Künstlerin Chiharu Shiota zeichnet mit Wollfäden.

Als Chiharu Shiota neun Jahre alt war, erwachte sie einmal nachts vom Geruch verbrannten Holzes. Sie weckte ihre Eltern und sah mit ihnen zu, wie die Feuerwehr das Nachbarhaus löschte. Plötzlich war ihr Blick gebannt von einem Detail: In der Ecke eines Zimmers standen die ausgebrannten Reste eines Flügels. Sofort begann Chiharu Shiota, mitten in der Nacht, auf dem Klavier ihrer Eltern zu spielen. Um sich zu versichern, dass es so etwas wie Klang noch gab. Sie fürchtete, der Rauch habe ihr die Stimme genommen.

Die Stille, die sie damals spürte, trägt die Künstlerin bis heute in sich, sagt sie, 29 Jahre nach dem Erlebnis, vierzehn Jahre nachdem sie nach Berlin zog und nachdem sie ihre Arbeiten weltweit in Ausstellungen und auf Biennalen zeigte. Und wenn Chiharu Shiota Netze aus Wollfäden durch Räume spinnt, in die sie Taufkleider einwebt oder ganze Möbelstücke, wenn sie hunderte Fenster aus Berliner Abrisshäusern zur Skulptur auftürmt wie gerade in der Berliner Sammlung Hoffmann zu sehen, steht diese Nähe zum Verstummen immer im Raum.

„Das Klavier verliert seinen Klang“, verarbeitete Shiota die Urszene ihrer Kunst später in einem Text, „der Maler malt nicht mehr, der Musiker hört auf zu musizieren. Sie verlieren ihre Funktion, aber nicht ihre Schönheit - sie werden noch schöner. Mein wahres Wort hat keinen Klang.“

Wer das jetzt alles zu kitschig findet, bleibe bitte dran. Es wird nämlich noch richtig blutig.

Der schwarze Wollfaden ist Shiotas Markenzeichen. In ihrem Lager warten hunderte Objekte darauf, eingesponnen zu werden: alte Schuhe, Bücher, Laborgefäße. Sie findet sie auf Flohmärkten oder in Abrisshäusern rund um ihr Atelier in den hinteren Ecken des Prenzlauer Bergs, wo die Sanierungswellen nur zögerlich voran schwappen und sich an den entblätterten, graffitiverzierten Häusern am Ende der Kopenhagener Straße brechen.

Ihre Arbeiten werden weltweit in Ausstellungen und auf Biennalen gezeigt. Wenn Chiharu Shiota Netze aus Wollfäden durch Räume spinnt, in die sie Taufkleider einwebt oder ganze Möbelstücke, wenn sie hunderte Fenster aus Berliner Abrisshäusern zur Skulptur auftürmt wie gerade in der Sammlung Hoffmann zu sehen, steht diese Nähe zum Verstummen immer im Raum.

„Das Klavier verliert seinen Klang“, so beschrieb Shiota später die Urszene ihrer Kunst. „Der Maler malt nicht mehr, der Musiker hört auf zu musizieren. Sie verlieren ihre Funktion, aber nicht ihre Schönheit – sie werden noch schöner.“ Wer das jetzt alles zu kitschig findet, bleibe bitte dran. Es wird nämlich noch richtig blutig. Der schwarze Wollfaden ist Shiotas Markenzeichen. In ihrem Lager warten hunderte Objekte darauf, eingesponnen zu werden: alte Schuhe, Bücher, Laborgefäße. Sie findet sie auf Flohmärkten oder in Abrisshäusern rund um ihr Atelier in den hinteren Ecken des Prenzlauer Bergs.

In tagelanger Arbeit spinnt Shiota die Objekte in dreidimensionale Rahmen ein. Ihre Knüpfarbeit ist Zeichnen im Raum, und wer will, kann in den Kontrasten von schwarzen Fäden und weißen Galeriewänden die Tradition der Kalligrafie sehen. In Vitrinen ohne Glas schweben die Objekte, vergipst oder geweißelt, feierlich entrückt. Man könnte hier von „Aura“ sprechen wie im verspulten Text zu einer Ausstellung in der Halle am Wasser, wo eine neue Arbeit Shiotas zu sehen ist. Oder nüchtern beschreiben, was geschieht: Shiota nimmt Dinge, die ihre Funktion verloren haben, und bringt ihre Geschichte zur Geltung, die Beziehungen, die sie mit ihren Nutzern eingingen.

Zur Unheimlichkeit ihrer Großinstallationen und Performances steht die Künstlerin selbst in verblüffendem Kontrast. In der Art, wie Chiharu Shiota einem gegenübersitzt, lässt sich die Würde japanischer Erziehung ablesen: Das Kreuz sanft aufrecht gehalten, die Hände demütig im Schoß ruhend, mit leicht seitwärts geneigtem Kopf die Fragen des Besuchers abwartend. Zustimmung wird durch zuvorkommendes Nicken bekräftigt.

Ob sie sich der Spinne verwandt fühle. Nicht in dem Sinne, dass sie ihre Objekte gefangen nehme, stellt sie klar. „Es fühlt sich eher so an, als würde ich ihnen ein Territorium abstecken.“ Und ja, die eingewebten Kleider, Bücher, Kinderschuhe erscheinen nicht als Gefangene traumatischer Geschichten wie etwa bei Louise Bourgeois. Sie wirken getragen, geborgen, ganz bei sich. Durch das Netz der Fäden erahnt der Betrachter auch einen verborgenen Teil seiner selbst.

2004 auf der Sevilla Biennale schlief Shiota in einem von Pflanzen zugerankten Haus in einem Krankenhausbett, das sie aus einer psychiatrischen Klinik hatte. Drum herum standen Berliner Altbaufenster wie stumme, geduldige Beobachter. In einer späteren Performance lagen dann gleich 30 Frauen in Krankenhausbetten in einem von Fäden durchzogenen Raum. Shiotas Arbeiten überwältigen auf den ersten Blick – oder eben nicht. Sie sprechen ihr Gegenüber auf subjektiver Ebene an. Doch ihre Wirkung lässt sich objektiv erklären. Es ist der Überfluss an Material und investierter Zeit, der Shiotas Installationen obsessive Kraft verleiht. In ihrer Fülle bringen sie die Wahrnehmung aus dem Gleichgewicht und verändern das Gefühl für Raum und Zeit.

In diesen Wochen hat Shiotas Pariser Galerist Christophe Gaillard in der Halle am Wasser einen Berliner Ableger auf Zeit eröffnet. Der Raum ist beherrscht von einer majestätischen Skulptur: ein weißes Kleid, gehängt wie eine Ikone. Tentakeln gleich ragen zahllose Schläuche heraus, durch die in beständigem Puls rote Flüssigkeit gepumpt wird, auf den Boden, in Schlaufen und Schlangenlinien in den Raum hinein. Glaskolben empfangen die Flüssigkeit, die von kleinen Pumpen in den nächsten Schlauch gesogen und zurückgeleitet wird, bis zu einer großen Kanne, aus der eine Aorta zu einer Infusionspumpe führt. Der Puls ist im ganzen Raum zu hören, das Schwappen und Plätschern im Glas und das Schnarren einer kleinen Pumpe, die angesichts der Flüssigkeitsmenge in den 700 Metern Schlauch kapituliert hat.

Es ist ein spektakulärer Schritt: vom Wollfaden zur Blutleitung, vom Geflecht zur kinetischen Skulptur. Nach einer Unterbrechung durch eine Krebserkrankung vor fünf Jahren und der Geburt ihrer Tochter kehrt Shiota pompös zurück. Zur Version dieser Arbeit, die Shiota gerade auf der Aichi Triennale in Japan zeigt, gehören 60 Pumpen und ein vierzehn Meter hohes Kleid. Gut, dass Shiota nicht bei Wolle und Altbaufenstern stehen bleibt. Dass sie jetzt auch mal etwas Fieses mit Elektrik macht. Sie klammert das Thema Seele aus, das Thema Erinnerung. Sie zeigt einen Versorgungskreislauf. Und sie zeigt ihn so, als folge er nicht einer ästhetischen Idee, sondern technischer Notwendigkeit.

Shiota lernte bei Marina Abramovic, Kunst als Auseinandersetzung mit dem Existenziellen zu begreifen. Ihre Praxis ist direkt verbunden mit persönlichen Erfahrungen. Sie legt Zeugnis ab über ihre Verletzungen, ihre Ängste. Sie zeigt ihre Wunde. Dass sie damit auch andere heilen kann, war für sie überraschend. Einmal erzählte die Sammlerin Erika Hoffmann ihr beim Tee, wie sehr Shiotas Arbeit ihr helfe den Tod ihres Mannes zu verarbeiten. Chiharu Shiota konnte nicht aufhören zu weinen.

Christophe Gaillard Pop Up Gallery in der Halle am Wasser, Invalidenstr. 50/51 (Mitte), bis 9. Oktober, Di–Sa 11–18 Uhr.

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