Laurie Penny im Interview: „Die meisten Frauen leben eine Work-Work-Balance“
Die britische Feministin Laurie Penny spricht vor ihrem Auftritt in Berlin über weiße Privilegien, Kapitalismus und Magersucht.
Ms. Penny, in Deutschland wurde gerade die Frauenquote für Unternehmensvorstände beschlossen. In Westeuropa sind immer mehr Frauen in Führungspositionen. Mal ehrlich: Wozu brauchen wir überhaupt noch einen Feminismus?
Ja, so denken viele: Hat sich der Kampf um Gleichberechtigung nicht längst erledigt? Nein, hat er nicht! Arme Frauen, Frauen mit dunkler Hautfarbe, Menschen mit nicht-heterosexueller Orientierung sind immer noch stark benachteiligt. Und ich glaube, seit den Nullerjahren herrscht so eine merkwürdige Kultur, Betroffenen dafür ständig selbst die Schuld zu geben. Hey, du bist unglücklich? Dann musst du härter an dir arbeiten! Dann hast du es einfach noch nicht hart genug versucht!
Die psychischen Nebenwirkungen der herrschenden Selbstoptimierungsideologie beschreiben Sie drastisch in Ihrem Buch „Unsagbare Dinge“. Darin berichten Sie aber nicht nur von magersüchtigen, sich kasteienden und perfekter Schönheit nachjagenden „abgefuckten Mädchen“, sondern auch von „verlorenen Jungs“. Sind auch Männer Opfer ihrer Geschlechterrolle?
Absolut! Ich halte die Vorstellung des alten Feminismus von einer klaren Machtaufteilung zwischen den Geschlechtern für überholt. Also die Vorstellung, wonach Frauen machtlos sind, wenn Männer Macht haben – und umgekehrt, dass Männer automatisch an Macht verlieren, wenn Frauen mehr Macht haben. So funktioniert das nicht.
Werden Frauen heute gar nicht mehr von Männern unterdrückt?
Nun, der Begriff Patriarchat meint wörtlich übersetzt ja nicht Herrschaft der Männer, sondern Herrschaft der Väter. Und die Reichen, die uns sozial kontrollieren, sind nicht per se alle Männer. Von daher haben es die meisten Männer oder Jungs nicht leichter als Frauen oder Mädchen. Sie haben nur andere geschlechtsspezifische Probleme. Ich glaube, der Feminismus wird immer besser darin, auch diese Probleme wahrzunehmen.
„Unsagbare Dinge“ wirkt in der Tat eher wie eine Kampfschrift gegen den neoliberalen Kapitalismus als gegen Sexismus. Karrierefrauen, die scheinbar mühelos den Spagat zwischen Job und Familie hinkriegen, kommen bei Ihnen schlecht weg. Warum? Ist es nicht positiv, dass Frauen heute genauso erfolgreich wie Männer sind und dazu noch hübsche Schuhe tragen?
Gegen tolle Schuhe habe ich nichts einzuwenden! Ich bin selbst vernarrt in Schuhe, als Gothic-Fan allerdings in schwarze. Aber es gibt eine neue Art von Feminismus, der Leute zu besseren neoliberalen Subjekten machen und sie glauben machen will, Gleichberechtigung hieße, eine Karriere machen zu können, die Freiraum für Kinder lässt. Das mag wichtig sein. Aber dieser Feminismus geht nicht an die Wurzel der Diskriminierung. Er redet nicht über Verhütung, Abtreibungsrechte oder darüber, wie Arbeit verteilt ist. Er redet nicht über sexuellen Missbrauch, Rassen- und Klassenzugehörigkeit. Wenn wir alle wohlhabende weiße Frauen in Weltstädten sein könnten, wäre das okay. Aber so funktioniert keine echte Befreiung.
Sie waren mit 17 Jahren so schlimm magersüchtig, dass Sie in eine Klinik kamen. War das die entscheidende Erfahrung, die Sie zur Feministin gemacht hat?
Nein, das geschah viel früher, als ich zwölf oder 13 Jahre alt war. Damals habe ich „Die ganze Frau“ von Germaine Greer gelesen und startete danach eine Kampagne an meiner Junior Highschool. Britische Schülerinnen durften damals noch keine Hosen tragen – nicht einmal im Winter. Also startete ich mit anderen Mädchen eine Petition. Wir hätten uns auch fast durchgesetzt. Ich berichtete Germaine Greer darüber in einem Brief, und sie schrieb mir eine Postkarte zurück, auf die ich so stolz war, dass ich sie mir eingerahmt habe.
In Ihrem Buch sind Sie sehr offenherzig, schreiben auch über Ihre Liebesaffären, Ihren Liebeskummer, Ihre Magersucht. Warum so viele private Geständnisse?
Ich wollte kein rein theoretisches Buch schreiben, sondern eins, das Leute wirklich bewegt. Und das Interessante an Magersucht ist ja, dass – obwohl lange bekannt ist, dass Rollenerwartung und Essstörungen gerade bei jungen Frauen zusammenhängen – die Gesellschaft immer noch an einem krank machenden Frauenbild festhält. Als ich damals in der Klinik war, gab es dort viele Ärzte, die uns Patientinnen immer ermunterten, „gute Mädchen“ zu werden. Sie sagten, wir sollten uns hübscher anziehen, die Haare wachsen lassen, uns schminken und ein besseres Körpergefühl entwickeln. Dann würde alles besser werden. Wurde es bei mir aber nicht. Was mir half, war die Erkenntnis, dass es okay war, wütend zu sein. Dass nicht ich verrückt war, sondern dass die Gesellschaft es verbockt hatte.
Der gegenwärtige Rollback macht die Sache für Frauen nicht einfacher. Was sagen Sie dazu, dass heute auch jüngere Akademikerinnen Tugenden wie Kochen, Heiraten, Kinderkriegen plötzlich wieder cool zu finden scheinen?
Interessant, dass Sie Mutterschaft auch dazuzählen. Denn ich habe gerade wirklich das Gefühl, das so ungefähr jede Frau, die ich kenne, schwanger ist. Ein Baby zu haben, scheint heute eine Lifestyle-Wahl zu sein. Etwas, das man sich leisten können will wie eine neue Homme-Tasche oder Louis-Vuitton-Schuhe.
Wobei ein Kind großzuziehen natürlich viel mehr Verantwortung und auch mehr Anstrengung bedeutet ...
Völlig richtig. Ich glaube, es ist wichtig, Mutterschaft – wie einige Feministinnen in den Siebzigerjahren – wieder als Arbeit zu begreifen. Ich höre die Leute so viel von Work-Life-Balance reden. Aber Freizeit für Frauen meint dann eben nicht: Einfach mal allein vor dem Fernseher abhängen und sich Fussel vom Bauchnabel puhlen. Freizeit für Frauen meint: Babys. Oder sich um den Ehemann kümmern. Die meisten Frauen leben eine Work-Work-Balance. Ihre Arbeit ist irgendwie nie zu Ende. Warum gönnen wir uns nicht ein bisschen mehr Faulheit? Mehr Zeit für uns selbst? Ich denke, ich werde zu einer Revolution der faulen Frauen aufrufen!
Das Gespräch führte Gisa Funck. Am Mittwoch, 17. Juni, 20 Uhr, liest Penny aus ihrem Buch „Unsagbare Dinge – Sex, Lügen und Revolution“ (Edition Nautilus) im Berliner SO 36, Oranienstr. 190.
Gisa Funck