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© dpa

Essstörung Magersucht: Der Kampf gegen den eigenen Körper

Um Schönheit geht es Magersüchtigen beim Verzicht aufs Essen kaum – sondern um Leistung. Im Theodor-Wenzel-Werk in Zehlendorf wird ihnen mit einer speziellen Therapie geholfen.

Ihre Knochen drücken durch die Haut. Weder im Gesicht noch am Bauch oder den Schenkeln hat Jenny Treiber (Name geändert) ein Fettpolster, das sie vor Stößen schützen könnte. Gerade einmal 41 Kilogramm wog die 21-jährige Medizinstudentin mit den langen braunen Haaren, als sie vor wenigen Wochen in die Abteilung für Magersüchtige im Theodor-Wenzel-Werk in Zehlendorf kam. Und das bei einer Körpergröße von 1,78 Metern. Ihr Body-Mass-Index (BMI) betrug damals 13,1. Nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gilt ein Mensch bereits ab einem BMI von 18,5 als untergewichtig. Jenny Treibers Zustand war lebensbedrohlich.

Heute wiegt sie rund vier Kilo mehr. Sie muss aber noch einige Kilo zunehmen, bis nicht mehr die Gefahr besteht, dass sie bei einem Spaziergang zusammenklappt. Ihre Freude über die Gewichtszunahme ist noch verhalten. Noch immer bereitet es ihr ein schlechtes Gewissen, eine Mahlzeit zu essen. In der Klinik, wo das wie das gemeinsame Kochen fest in den Tagesablauf der Patientinnen integriert ist, beobachtet sie häufig ihre Tischnachbarin: „Dann denke ich: ,Wow, die schafft es, mit noch weniger Nahrung auszukommen‘ und werde neidisch. Ich muss mir dann einen Ruck geben, um weiterzuessen“, sagt sie.

„Magersüchtige leiden unter einer verzerrten Wahrnehmung und lassen sich nur schwer helfen“, erklärt Christian Thiele, Psychotherapeut, Facharzt für Innere und psychosomatische Medizin und Leiter der Abteilung für psychosomatische Medizin im Theodor-Wenzel-Werk. „Ich musste mich erst von meiner Familie treten lassen. Von alleine wäre ich nicht zum Arzt gegangen“, sagt Jenny Treiber.

Das Streben nach Schönheit

In der Öffentlichkeit wird Magersucht (Anorexia nervosa) mit Streben nach Schönheit gleichgesetzt. Verantwortlich gemacht wird der von der Werbeindustrie propagierte Schlankheitswahn sowie Fernsehsendungen wie Germany’s Next Topmodel. „Dieses Bild ist zu einseitig“, sagt Thiele. „Magersüchtige hören nicht auf zu essen, weil sie schön sein wollen.“ Sie haben vielmehr ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper, wollen alles Körperliche sogar loswerden. Ihnen geht es um die Leistung: „Sie sind stolz darauf, wenn sie es geschafft haben, mit so wenig Nahrung wie möglich auszukommen.“

Jenny Treiber erklärt sich ihre Magersucht dadurch, dass sie von Freunden und Klassenkameraden immer nur für ihre guten Noten und Leistungen geschätzt wurde. „Ich hatte das Gefühl, keiner interessiert sich für meine Persönlichkeit“, sagt sie. Die Krankheit brach bei ihr während ihres ersten Studiensemesters aus, als sie ununterbrochen für Klausuren lernen musste. „Ich hatte das Gefühl, dass ich mir das Essen verdienen musste“, sagt sie. Immer häufiger verzichtete sie auf eine Mahlzeit. Die Portionen wurden immer kleiner. In weniger als zwei Jahren nahm sie 18 Kilogramm ab. „Irgendwann gewöhnt sich der Körper daran, und der Hunger bleibt aus“, sagt sie.

„Warten die Betroffenen zu lange, kann die Krankheit chronisch werden und die Heilungschancen verschlechtern sich enorm“, sagt Thiele. Folgen sind Organschäden durch Vitamin- und Mineralstoffmangel am Herzen oder an den Nieren. Bei 13 Prozent der Betroffenen führt die Krankheit zum Tod. Dazu kommt es durch Langzeitschäden wie eine zerstörte Immunabwehr und nicht selten durch Suizid. Die wenigsten sterben durch Verhungern.

Gemeinsames Kochen soll helfen

Im Theodor-Wenzel-Werk in Zehlendorf behandeln Thiele und seine Kollegen ihre Patienten auf der Grundlage eines psychosomatischen Behandlungskonzepts. Dabei durchlaufen die Patienten ein zehnwöchiges Therapieprogramm. In dieser Zeit wohnen sie mit anderen Betroffenen auf einer Station der Klinik. Zunächst müssen die stark unterernährten Patientinnen während der Therapie zunehmen, etwa 500 Gramm pro Woche. Das gemeinsame Kochen und Essen soll helfen, ein Gefühl für Hunger und Sättigung wieder aufzubauen. In erster Linie verfolgen Thiele und seine Kollegen aber psychotherapeutische Behandlungsmethoden, die sich auf die Entwicklung der individuellen Gesamtpersönlichkeit konzentrieren. „Wir behandeln nicht nur das Symptom, sondern vor allem innere Konflikte“, sagt Thiele. Dafür sind Einzel- sowie Gruppentherapien wichtig.

Anhand von Kunst-, Körper- und Bewegungstherapien erarbeiten die Patientinnen sich außerdem Methoden, wie sie ihr seelisches Leid auf einer anderen Ebene verarbeiten können. 50 Prozent der Patientinnen kehren so nach und nach in ein normales Leben zurück, und bei weiteren 25 Prozent kann zumindest die Lebenssituation verbessert werden. Der Weg dahin ist aber lang, er kann Jahre dauern. Manchmal endet er nie ganz: Viele bleiben rückfallgefährdet.

Jenny Treiber wird noch eine ganze Weile im Theodor-Wenzel-Werk bleiben. Um ihr Selbstwertgefühl zu stärken, will sie auch nach dem Klinikaufenthalt eine ambulante Therapie besuchen. Doch ihr erster Schritt wird es sein, innerhalb der nächsten drei Wochen zum ersten Mal alleine die Klinik verlassen zu können. Dann will sie so viel Gewicht zugenommen haben, dass sie einen Spaziergang übersteht, ohne dabei umzukippen.

Hilfe bei Magersucht und Bulimie bietet die Beratungsstelle www.dick-undduenn-berlin.de

Saara Wendisch

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