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In Zeiten des Malverbots. Emil Noldes um 1943 entstandenes Aquarell „Kriegsschiff und brennender Dampfer“.
© Nolde Stiftung Seebüll, Dirk Dunkelberg

Siegfried Lenz' Roman „Deutschstunde“: Die Makellosigkeit ist verloren gegangen

Auch der Erfolg der „Deutschstunde“ machte den Maler Emil Nolde geradezu sakrosankt - bis jetzt. Die Neubewertung des Antisemiten Nolde ist in vollem Gange.

Durchläuft man die Emil-Nolde-Ausstellung im Hamburger Bahnhof chronologisch, endet diese in einer Ecke, in der Noldes 1936 entstandenes Bild „Der Brecher“ hängt. Es ist jenes Bild, das von 2006 bis 2019 Angela Merkels Büro im Bundeskanzleramt zierte und schon für viele Irritationen sorgte.

Mehr noch jedoch wird diese Ausstellungsecke von einer Vitrine dominiert, einer großen Bücherauslage unter Glas. Ausgelegt sind die zahlreichen deutschen Ausgaben von Siegfried Lenz’ Roman „Die Deutschstunde“, der 1968 veröffentlicht wurde: die gebundene Erstausgabe, verschiedene Bibliotheks- und Taschenbuchausgaben, die Jubiläumsausgabe von 2018. Und um die internationale Bedeutung des Romans zu dokumentieren, zahlreiche Ausgaben aus Frankreich, Italien, Spanien, Dänemark, den USA oder der Türkei.

Diese Ansammlung sieht wuchtig aus, sie ist ein Exponat eigener Güte in dieser Nolde-Ausstellung. Denn Lenz hat den Künstler für eine seiner drei Hauptfiguren als Vorbild genommen – für den Maler Max Ludwig Nansen. In der Ausstellungsinformation über die „Folgen“ der „Deutschstunde“ heißt es schließlich: „Nolde wurde dadurch endgültig zum bekanntesten ,Opfer‘ der nationalsozialistischen Kunstpolitik.“

Der Roman, nicht zuletzt sein überwältigender Erfolg gerade international sowie der Ruf des lauteren, moralisch untadeligen Schriftstellers machten den Antisemiten und Nazi Emil Nolde lange Zeit geradezu sakrosankt – und zu einem Lieblingsmaler von Angela Merkel, zuvor schon Helmut Schmidt. Der hatte ebenfalls Nolde-Gemälde in seinem Kanzleramtsbüro hängen und schrieb in einem Brief an Siegfried Lenz: „Seit meinem 16. Lebensjahr ist Emil Nolde für mich, gemeinsam mit Ernst Barlach, der größte deutsche Künstler dieses Jahrhunderts; seine Einreihung in die NS-Ausstellung sogenannter Entarteter Kunst löste bei mir als damals Siebzehnjähriger den Bruch mit dem Nationalsozialismus aus.“

Emil Nolde ist nie aus der NSDAP ausgetreten

Nun ist die Ausstellung im Hamburger Bahnhof, die noch bis zum 15. September zu sehen ist, ein Politikum: wegen des Hin und Her um das „Brecher“-Bild, des langen Merkel-Lavierens ob der Abhängung; wegen Nolde und seiner zwiespältigen Künstler-Aura sowieso. Was ihre Attraktivität unbedingt erhöht: Auch unter der Woche stehen schon frühmorgens Hunderte Besucher und Besucherinnen in den Ausstellungsräumen; es gibt Zeitfenster, um die Menschenströme zu lenken. Aber nicht nur Nolde und seine Bilder werden viele noch mal mit anderen Augen betrachten, sondern auch den Lenz-Roman womöglich anders lesen; einen Roman, der bis heute zur Schullektüre gehört.

Im Zentrum der „Deutschstunde“ steht das „Malverbot“, das die Nazis gegen den in dem fiktiven Ort Rugbüll nahe der dänischen Grenze lebenden Künstler Nansen verhängt haben. Der Roman erzählt, wie der Dorfpolizist Jan Ole Jepsen dieses Malverbot überwacht, seine Pflicht tut, sich an die „allgemeine Ordnung“ hält. In einer Rahmenhandlung erinnert sich ein paar Jahre später der Ich-Erzähler Siggi Jepsen, der Sohn des Polizisten, dieser Szenerie. Er soll – inzwischen in einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche einsitzend – einen Aufsatz über die „Freuden der Pflicht“ schreiben, eben diese „Deutschstunde“.

Der junge Jepsen schildert, wie er sich auf die Seite des Malers schlägt, dessen Bilder versteckt. Auch nach Kriegsende und Aufhebung des Malverbots hält er daran fest, Nansens Bilder in seinen Besitz zu bringen, weshalb man ihn in Verwahrsam nimmt. Lenz erzählt hier von einem Vater-Sohn-Konflikt, der 1968 in die Zeit passt – und von dem Konflikt zwischen zwei Männern, die sich von früher kennen, im selben Ort aufgewachsen sind, Freunde waren und sich nun gegenüberstehen: hier der Polizist, dort der Maler, hier die Macht, dort die Kunst.

Foto: Der Schriftsteller Siegfried Lenz (1926-2014)
Foto: Der Schriftsteller Siegfried Lenz (1926-2014)
© picture alliance / dpa

Von Beginn an besteht kein Zweifel daran, wer hier auf der richtigen Seite steht: der Maler, der für seine Kunst lebt und nicht anders kann, als seiner Berufung nachzugehen. Der zwar „die Ereignisse des Jahres 1933 zunächst begrüßte“, aber „unter dem Eindruck der Beschlagnahme von mehr als achthundert seiner Bilder, die von deutschen Museen erworben waren“ aus der NSDAP austrat, „in die er nur zwei Jahre später als Adolf Hitler getreten war“.

Lenz porträtiert den Maler als unbeugsamen Widerständler

Lenz lässt den Maler im Dialog mit dem „Polizeiposten“ immer wieder Sätze wie diese sagen: „Es kotzt mich an, wenn ihr von Pflicht redet. Wenn ihr von Pflicht redet, müssen sich andere auf was gefasst machen.“ Oder: „Im Kopf jedenfalls kann man keine Hausdurchsuchung machen. Was da hängt, hängt sicher. Aus dem Kopf, da könnt ihr nichts konfiszieren.“ Oder als der Krieg fast vorbei ist, da stellt Jepsen noch einen „Volkssturm“ zusammen, zu dem auch Nansen gehört. Der Polizist zielt mit einer Waffe auf den Maler, weil dieser die Stellung verlassen will:  „Ich werde gehn, Jens. Mich wird keiner zurückhalten, auch du nicht. (...) Nichts, nicht einmal das Ende verändert euch. Man muss darauf warten, bis ihr ausgestorben seid.“

Der Maler Nansen ist hier jetzt kein rabiater Widerständler – aber ein unbeugsamer Mann mit Überzeugungen, mit einem gewissen Starrsinn, einer, der auch einen Deserteur wie Jepsens Bruder Klaas versteckt. So wie Lenz ihn Nolde nachgebildet hat, dem Aussehen und Namen nach (Noldes Geburtsname war Hansen), über den Wohnort und das Malverbot bis hin zu den vielen Bildern, auch den sogenannten „Ungemalten Bildern“ (hier: Unsichtbare Bilder), er sich genau an dessen Lebens- und Werkgeschichte orientiert, fällt es schwer, sich Nansen als fiktive Figur vorzustellen, ihn nicht immer wieder mit dem realen, dem ungemein opportunistischen Vorbild abzugleichen, das die Ausstellung auf der Basis neuster Forschungen von ihm zeichnet.

Natürlich bewegt sich der Roman in einem Raum des Fiktiven. Auch mag das Hauptmotiv über „die Freuden der Pflicht“, über das Unheil des Gehorsams, auf den sich nach dem Krieg viele Deutsche berufen haben, die „Deutschstunde“ dominieren. Und doch lastet auf Lenz’ Roman Noldes wahres Leben und Wirken.

Es hilft nicht, dass sich Lenz immer wieder mit dem „Gift“ beschäftigt, das der Maler produziert, seiner Kunst. Es hilft nicht, dass die Nazis Noldes Bilder in den Museen beschlagnahmten, sie für „entartet“ erklärten, er wie Lenz’ Nansen ein Maler war, dem offiziell das Malen verboten war. Adolf Behne, Kunstprofessor und einer der wenigen Skeptiker, schrieb über eine Nolde-Ausstellung kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: „Er war bereit, seine Kunst den Nazis darzubringen, und nur deren Ablehnung war das Hindernis. Er ist ein entarteter ,Entarteter‘.“

Anfang Oktober erscheint eine neue Verfilmung der "Deutschstunde"

Schon 2014 hatte es eine Debatte über Lenz’ Roman anlässlich der Nolde-Ausstellung in der Frankfurter Schirn-Kunsthalle gegeben. In der „FAZ“ urteilte Jochen Hieber damals, dem Roman sei „ein Gutteil seiner Glaubwürdigkeit“ abhanden gekommen, „seine innere Balance“. In der „Zeit“ dagegen wusste Ulrich Greiner, dass es auf der Hand liege „(und lag dort immer schon), dass dieses Bildnis des unbeugsamen Künstlers nicht das des wirklichen Nolde ist, und wer das bestreitet, ist komisch.“ Was niemand bestreitet. Doch Noldes Vita, seine Bilder sind dem Roman miteingeschrieben.

Siegfried Lenz mochte sich kurz vor seinem Tod 2014 nicht mehr groß zu seinem Roman und der Figur des Malers äußern, wie er sich überhaupt wenig im Hinblick auf Nolde und dessen Vergangenheit geäußert hat. Seine Hauptquelle war die große Nolde-Monografie des Kunsthistorikers Werner Haftmann, der nicht nur einmal gesagt hat „Nolde ist keineswegs ein Antisemit“, sondern zugab, Noldes Nazi-Vergangenheit „bewusst verschwiegen“ zu haben.

Haftmann prägte Noldes Nachkriegsaura als Widerständler entscheidend. Lenz war auf dem unvollständigen Wissensstand über ihn zu jener Zeit. „Dies Land, dieser Himmel, ein Künstler und die Macht“, darum ging es Lenz, wie er in einem Brief in der 2017 veröffentlichten kommentierten Werkausgabe der „Deutschstunde“ zitiert wird.

Umso erstaunlicher, dass zum fünfzigjährigen Jubiläum des Romans 2018 kaum noch über den Hintergrund des Romans geredet wurde und der Verlag eine zwar schöne, aber völlig unkommentierte Neuausgabe veröffentlichte. Lediglich eine Zeit- und Lebensstationentafel von Lenz findet sich darin, die mit dem Jahr 2018 endet und dem Hinweis darauf, dass die „Deutschstunde“ nach 1971 noch ein zweites Mal verfilmt wurde, von Christian Schwochow, nach einem Drehbuch seiner Mutter Heide.

Der neue Film kommt nun Anfang Oktober in die Kinos. Man kann davon ausgehen, dass der von Tobias Moretti gespielte Maler abermals eine von antisemitischem Gedankengut und vom Nazismus freie, sich dem Polizisten Jepsen hartnäckig widersetzende Figur ist.

Man braucht nun nicht gleich die Entstehungs- und Wirkgeschichte des Romans „umschreiben“, wie es in der „FAZ“ 2014 hieß. Doch lässt er sich über fünfzig Jahre nach seiner Veröffentlichung im Hinblick auf die Figur des Malers nicht mehr ohne die Erkenntnisse über Nolde und dessen Verfehlungen lesen. Auch die immer wieder beschworene subversive Kraft der Bilder stellt sich in einem anderen Licht dar. So wie man sich mit Nolde im Bundeskanzleramt nicht mehr schmücken mag, ist auch die Makellosigkeit von Lenz’ Roman verloren gegangen.

Am 3.9., 18 Uhr gibt es im Hamburger Bahnhof ein Kuratorengespräch über Nolde und die „Deutschstunde“, mit Günter Berg von der Siegfried-Lenz-Stiftung.

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