Zum Tod von Siegfried Lenz: Schweigeminute
Ein Lautsprecher war er nie. Kein notorischer Selbstdarsteller, der das Rampenlicht suchte. Siegfried Lenz blieb lieber still im Hintergrund. Das Publikum hielt ihm die Treue – und der tiefen Menschlichkeit seiner Bücher. Ein Nachruf.
Er berührt einen ganz eigentümlich, dieser Tod von Siegfried Lenz; man mag der Nachricht zunächst kaum trauen. Stimmt sie wirklich? Das hat natürlich gar nichts mit dem hohen Alter von Lenz zu tun: 88-jährig ist er am Dienstagmorgen in Hamburg gestorben, im Beisein der Familie und seiner zweiten Ehefrau Ulla Reimer, die er 2010 geheiratet hatte. Das hat vielmehr damit zu tun, dass er trotz seines Alters und trotz seiner sichtbaren Gebrechlichkeit – seit vielen Jahren konnte er sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen – geistig enorm vital war, er sich immer freundlich, munter und guten Mutes zeigte, öffentlich zumindest, dabei stets eine Pfeife stopfend.
„Mutlos wird man erst später“, hat er seltsamerweise einmal geschrieben, in einem Erinnerungstext, der sich auf seine Anfänge als Schriftsteller bezog, auf seinen Debütroman „Es waren Habichte in der Luft“ von 1951. Doch mutlos ist er dann tatsächlich nie gewesen. Er sei noch längst nicht fertig, sagte er im April dieses Jahres, als er dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach seinen Vorlass übergab, und er fragte noch: „Ist man das überhaupt irgendwann? Fertig?“ Äußerungen wie diese hat er in den vergangenen Jahren oft gemacht, Fragen, ob er wirklich noch schreiben, ob er nicht besser aufhören solle, haben sich ihm ausgerechnet im hohen Alter nie gestellt. Vergleicht man diese Einstellungen mit poetologischen Aussagen seiner mittleren Jahre, hat er wohl gerade daraus, aus seiner Beharrlichkeit und einem gewissen Starrsinn, auch Kraft bezogen: „Die Fantasie versiegt“, urteilte er Anfang der 90er Jahre über den Tribut, den man dem Alter zollen müsse, „die Projektionen der Wirklichkeit misslingen, und man greift auf Erinnerungen zurück.“
"Deutschlands Gewissen" wurde er genannt
Es war dies zudem die Zeit, kurz nach der Wiedervereinigung, als das Land Siegfried Lenz ein bisschen vergessen hatte, sich lieber an Günter Grass und Martin Walser rieb, die immer lauter waren als Lenz, immer den Kameras näher standen als er. „Deutschlands Gewissen“ hat ihn dafür sein Freund, der israelische Schriftsteller Amos Oz, einmal genannt: den Autor der „Deutschstunde“, Lenz’ berühmtester und erfolgreichster Roman, 1968 veröffentlicht, war ein Roman über einen Jungen namens Siggi Jepsen und einen Emil Nolde nachgebildeten Maler, über die Beziehung von Kunst und Macht im Nazi-Deutschland.
Lenz prägte mit seinen befreundeten Kollegen Günter Grass, mit Martin Walser, Uwe Johnson und Heinrich Böll das literarische Gesicht der alten Bundesrepublik. Aber nicht nur das: Er war genau wie diese im höchsten Maß politisch engagiert. Lenz absolvierte in den 60er Jahren Wahlkampfauftritte für Willy Brandt, er wurde auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges im Herbst 1962 vom amerikanischen Botschafter in die USA eingeladen, um hier als Schriftsteller und Intellektueller Auskunft über die Situation im geteilten Deutschland zu geben. Er war 1970 Mitglied von Brandts Delegation bei dessen historischer Warschau-Reise – und ihn verband eine lebenslange Freundschaft mit Helmut Schmidt, den er 1977 auf dessen schwieriger Reise nach Polen in die ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau begleitete.
Mit der Nazi-Geschichte abschließen wollte er nie
Und genau das meinte auch Oz mit „Gewissen“: Dass Siegfried Lenz nie bereit war, mit der Nazi-Geschichte abzuschließen, sie mit den Jahren in ein milderes Licht tauchen zu wollen. Diese Geschichte war für ihn stets präsent, zukünftige deutsche Politik müsse immer darauf Bezug nehmen. „So seltsam es klingen mag“, formulierte Lenz 1988 in seiner Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, „Auschwitz bleibt uns anvertraut. Es gehört uns – so, wie uns die übrige Geschichte gehört. Mit ihr in Frieden zu leben ist eine Illusion: denn die Herausforderungen und die Heimsuchungen nehmen kein Ende. Schließlich haben wir es nicht mit der spirituellen Hinterlassenschaft von Hegels Weltgeist zu tun, sondern mit überliefertem unsagbaren Leiden. So ist zu fragen, ob es einen Frieden geben kann, in dem auch die Unversöhntheit einen Platz findet. Ich glaube: ja. (...) Unversöhnt geben wir der Vergangenheit, was wir ihr schulden, und der Gegenwart, was sie annehmbar macht.“
Es ist dies die Position eines Schriftstellers, für den das Leiden und der Schmerz der Menschen im Mittelpunkt stehen, dem es bei aller Skepsis nichtsdestotrotz um Versöhnung, um Verständigung geht; eine humanistische Position, immer in dem Wissen, dass es keine Wiedergutmachung geben, so eine große Schuld wie die der Deutschen nicht getilgt werden kann. Dieser Humanismus, dem immer auch ein wenig Humor beigemengt ist, etwas Schelmisches, durchzieht auch Siegfried Lenz’ großes, mehr als 40 Titel zählendes Werk: von eben jenem Debüt „Es waren Habichte in der Luft“ über die masurischen Kurzgeschichten „So zärtlich war Suleyken“ und die großen Romane „Deutschstunde“ und „Heimatmuseum“ bis zu der schönen, zeitlosen, entrückten Liebesnovelle „Schweigeminute“, mit der er 2008 literarisch noch einmal zu großer Form auflief.
Der "Idylliker": Warum Lenz nie den Büchner-Preis bekam
Anders als beim Publikum, das ihm gerade wegen der tiefen Menschlichkeit seiner Bücher bis auf die wenigen Jahre nach der Wende die Treue hielt, sie fast immer zu Bestsellern machte und in Scharen zu seinen Lesungen strömte, kam er bei der Literaturkritik nicht immer so gut weg. Den Büchner-Preis hat er nie bekommen. Als „Idylliker“ wurde er schon mal geziehen, wegen seiner Suleyken-Geschichten, unter Kitsch-Verdacht stand er dann und wann, und dass er oft zu viel erzählerischen Aufwand betreibe für wenig Erkenntnisertrag, er ein wenig langatmig sei, gerade in seinen Romanen. Für seinen engen, ewigen Freund Marcel Reich-Ranicki, der sich wegen dieser Freundschaft hütete, Lenz-Romane zu besprechen (und dem Lenz mit der Erzählung „Der große Zackenbarsch“ ein wunderbar subtiles Denkmal gesetzt hat), zählten besonders Erzählungen wie „Das Feuerschiff“ oder „Ein Kriegsende“ zu den Höhepunkten von Lenz’ Schaffen.
Bei manchen späten Romanen fragte man sich, ob es seiner bedurft hätte.
Tatsächlich fragte man sich nach der Lektüre später Lenz-Romane aus den frühen nuller Jahren wie „Das Fundbüro“ oder „Arnes Nachlass“ immer mal wieder, ob diese noch zeitgemäß, sie nicht ein wenig altmodisch seien, gerade auch sprachlich, ob es dieser wirklich bedurft hätte, so gut sie auch gemeint waren.
Siegfried Lenz konnte jedoch tatsächlich nicht anders: „Ich bekenne, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen“, hieß einer seiner Leitsätze, als „Selbstversetzung“ bezeichnete er sein Verhältnis zum Geschichtenerzählen. In dem Theaterstück „Landesbühne“ aus dem Jahr 2009 lässt er einen Professor Ähnliches sagen, in einem Vortrag über die Fantasie. Diese helfe „Verzweiflung zu ertragen, Hoffnungslosigkeit auszuhalten, Entbehrungen zu überwinden“. Von einer „lebensrettenden Fantasie“ sprach Lenz auch in diesem Zusammenhang. Und nahm diese durchaus für sein Leben in Anspruch, über dessen sehr frühe Jahre, die Kindheit und Jugend, er nur spärlichst Auskunft gegeben hat.
Geboren wurde Lenz 1926 im ostpreußischen Lyck, im heutigen Polen liegend, als Sohn eines Zollbeamten. Der kleine Siegfried wuchs dann, gerade schulpflichtig geworden, nach dem Tod des Vaters und dem Verschwinden von Mutter und Schwester bei seiner Großmutter auf und kam im Alter von 13 Jahren zur Hitlerjugend. 1943 landete er bei der Kriegsmarine, auf der „Admiral Scheer“, einem Kriegsschiff, das gleich bei seinem ersten Dienst versenkt wurde. Lenz überlebte, kam nach Dänemark, desertierte und geriet 1945 auf der Flucht in englische Gefangenschaft. In Hamburg begann er dann ein Studium, gab es aber auf zugunsten eines Volontariats bei der „Welt“. Für Willy Haas’ legendäre „Literarische Welt“ sollte er unter anderem die Fortsetzungsromane „einrichten“ und auch „einstreichen“, wie er das später durchaus genüsslich formulierte.
Es schien oft, als habe sein Leben erst in Hamburg begonnen
Es schien in Gesprächen mit Lenz immer, als hätte sein Leben erst in Hamburg begonnen: mit dem Studium, dem Schreiben seines Debüts, das zunächst ebenfalls als Fortsetzungsroman veröffentlicht wurde. Die Kriegserlebnisse verarbeitete er später in eben jenen von Reich-Ranicki gerühmten Erzählungen. Doch über seine Kindheit und Herkunft hat er sich bis ins hohe Alter ausgeschwiegen, da verwies er bei entsprechenden Fragen stets auf seine schon 1966 veröffentlichte biografische Skizze „Ich, zum Beispiel“ und sagte: „Man hat früh die Neigung, sein Leben zu bilanzieren. Später wird es problematischer. Ach ja.“ Dieses „Ach ja“, mit dem er viele seiner gesprochenen Sätze beendete, hatte nicht nur etwas Seufzendes, sondern auch leicht Melancholisches, so als sei es eben ein Sisyphos-Kampf, die Verständigung unter den Menschen besser zu gestalten.
Gut möglich, dass Lenz auch „Ach ja“ geseufzt hat, als vor kurzem noch einmal eine Debatte darüber aufflammte, dass er Emil Nolde in seiner „Deutschstunde“ zu positiv dargestellt habe – als wäre ihm die Ambivalenz, die politische Zwielichtigkeit Noldes nicht bewusst gewesen. Ein Großteil seines Werkes bleibt trotzdem gültig – und vor allem bleibt die Erkenntnis: Einer wie Siegfried Lenz wird Deutschland fehlen.
Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.
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