Der Brexit aus griechischer Sicht: Die Macht des Neins
Der Grexit kam nicht, der Brexit ist wohl nicht zu stoppen: Wie zwei Volksabstimmungen die Krise Europas spiegeln. Ein griechischer Blick auf den britischen Ausstieg.
Den Brexit erlebte ich in Kopenhagen. Am Abend zuvor hatte ich bei einer Tagung an der dortigen Universität im Fachbereich für griechische Studien über die Darstellung der griechischen Geschichte in der griechischen Literatur nach 1989 gesprochen – übrigens wieder eines der griechischen Institute im europäischen Raum, das wegen Mittelknappheit geschlossen werden muss. Als unverbesserliche Optimistin setzte ich mich zu den noch nicht ganz wachen anglophonen Graezisten aus Großbritannien, Amerika und Australien an den Frühstückstisch.
„Wie ist das Referendum gelaufen?“ Sie sahen mich alle an, als ob ich von einem anderen Stern käme. Sie waren schon über Prozentzahlen, den ersten Politklatsch, die Statements der Europäer informiert. Auch bei unserem griechischen Referendum hatte es mich eiskalt erwischt: Ich war mir sicher, dass es eine Mehrheit der Ja-Stimmen geben würde, das Nein (das bekanntlich ohne größere Umstände dann doch zu einem Ja wurde) traf mich völlig unvorbereitet.
Ich glaubte weiterhin, dass Europa eine große, bedeutende Idee ist, eine romantische Idee, die – wie alle romantischen Ideen – mit Blut und Leidenschaft formuliert wurde. An diesem melancholischen Frühstückstisch, wo alle appetitlos französische Croissants, italienische Tomaten, dänisches Müsli und (deutsches?) Körnerbrot verzehrten, wurde ich abermals eines Besseren belehrt.
Boris Johnson taktierte wie Yanis Varoufakis
Immer, wenn vom Brexit die Rede war, habe ich „Grexit“ gehört, der Unterschied besteht ja nur in einem Konsonanten. Es gibt weitere Ähnlichkeiten: Beide Regierungen setzten das Referendum politisch ein, um die eigene innerparteiliche Schlappe auf Europas Schultern auszutragen (Tsipras stand dabei allerdings wesentlich mehr unter Druck als Cameron). In beiden Fällen war die rhetorische und politische Manipulation blauäugig, narzisstisch, fernsehwirksam und pathetisch, voller Dramatisierungen. Auf dem britischen Spielfeld übernahm Boris Johnson mit seinem extremen Taktieren äußerst wirksam die Rolle unseres Varoufakis. Am Ende zeigt sich, dass wir in den letzten zwei heißen Sommern, im sensibelsten Moment der europäischen Geschichte nach 1989, die Macht des Neins, des Misstrauens, des Aufbegehrens, des symbolischen Widerstands der Völker unterschätzt haben.
Nach 1989 wollten alle in die EU - jetzt wachsen die Fliehkräfte
Der einzige grundlegende Unterschied ist wohl die Liebe der Engländer zur Direktheit, zur Unverblümtheit. Ihr Referendum stellte explizit die Frage nach dem Verbleib in der Europäischen Union, das griechische Referendum hingegen war ein demagogisches, an Griechenland und Europa gerichtetes innenpolitisches Spiel, bei dem die Austritts-Frage nicht direkt gestellt wurde. Wir Griechen mögen Wortspiele – wir zählen ja auch zwei Lyriker als Literaturnobelpreisträger zu unseren Aktivposten. Erst kürzlich war in den Athener Straßen zum „Jahrestag“ des Referendums ein Plakat im Umlauf, auf dem „Nein zu ihren Jas“ stand ...
Wenn ich das Thema noch einmal bei einer Tagung aufgreifen könnte, würde ich gerne fragen: Wie viele Menschen würden sich bei weiteren europäischen Referenden jetzt bewusst dafür entscheiden, in der EU bleiben zu wollen? Im Moment ist die Tendenz zur Abtrünnigkeit genauso groß wie nach 1989 der Wunsch der europäischen Länder, um jeden Preis in die Union aufgenommen zu werden. Was ist eigentlich schiefgelaufen, die Simplifizierung, den Populismus und das Erstarken des Nationalismus einmal beiseitegelassen? Was hat die europäische Idee so verzerrt?
Was können wir tun? An Europa glauben.
Europa ist zur vernebelten Festung geworden, zu einem Marionettentheater mit Figuren, die auf der Bühne erscheinen und belehrend den Finger heben. Bis heute ist es Europa nicht gelungen, den Völkern des Kontinents eine supranationale Identität zu bieten, den Glauben an das, was sie vereint, nicht an das, was sie trennt. Die Union hat sich entschieden, sich mit der Sprache und Vorgehensweise der Bürokratie zu identifizieren, mit der strafenden Politik der (arroganten) Starken gegenüber den (eingeschüchterten) Schwachen. Und obwohl sich Veränderungen von weltpolitischer Dimension vollzogen haben (Flüchtlinge, Terror, Arbeitslosigkeit, Destabilisierung) agiert Europa weiterhin ohne Gespür für die Dringlichkeit der Konflikte. Es findet keine Wege, die versprengten Kräfte zu vereinen und das Gefühl eines gemeinsamen Ziels zu vermitteln.
Über die praktischen Folgen lässt sich stundenlang reden: Dass der Brexit den drittgrößten Crash in der Geschichte der griechischen Börse verursacht hat, und welche Folgen er für das griechische Wachstum und die Investitionen haben wird. In ganz Europa werden wir noch längere Zeit über eine wirtschaftliche Destabilisierung sprechen, über den Fall des englischen Pfunds und des Euro, über die Neigung zu einer Rückkehr zum Protektionismus.
London war einst die erste Stadtgesellschaft der modernen Welt
Die ständige Diskussion über ökonomische Fragen verhindert eine grundlegende Beschäftigung mit den europäischen Werten, den offenen Städten, den offenen Gesellschaften. Es wirkt wie ein Luxus und wie Theoretisiererei, ausgerechnet heute von europäischer Vollendung zu träumen. London war im 19. Jahrhundert die erste Stadtgesellschaft der modernen Welt, das erste Beispiel sozialen Lebens, wie wir es heute kennen, „the first society of strangers“, wie es der britische Historiker James Vernon nennt.
Man braucht nur in einem Roman von Charles Dickens zu blättern, und schon versinkt man im Schlamm, im endlosen Hin und Her der Karren, dem Getöse der Eisenbahnen, man folgt den Unbekannten, die sich auf den Straßen begegnen und lernen zusammenzuleben, es ist eine neue Art von Gesellschaftsroman, der sich dem Leben und der Welt öffnet. Gleichzeitig sprach George Eliot als frühe Soziologin über das „Brüllen am anderen Ende des Schweigens“, über den Lärm des Lebens in der Großstadt. Und nun soll diese emblematische Großstadt sich von der fundamentalen Idee der gesellschaftlichen Verdichtung verabschieden und sich in sich selbst abschotten?
Das größte europäische Tabu ist die Angst vor Veränderung
Um das Thema ein wenig „buddhistischer“ zu betrachten: Die übertriebene Beschäftigung mit dem Ich, die Konzentration auf das individuelle Wohl, die Mauern, die das zentrale Europa errichtet, die Länder, die desertieren, weil sie keine Geduld, keine Anpassungsfähigkeit und keinen sozialen Wohlstand mehr aufbringen können oder wollen, das Sich-Einschließen aller Art bringt noch größere Ängste und Zweifel hervor.
Das größte europäische Tabu ist die Angst vor Veränderung, der Gedanke, Europa könnte sich wandeln. Ein alter Kontinent, der die Gespenster der Kolonialisierung und der Kriege im Gepäck hat, aber auch seine Musik, die wunderbare Literatur, den wissenschaftlichen Fortschritt, dieser Kontinent gerät jetzt ins Wanken. Europa macht die Beine steif, weil es seine Gangart partout nicht ändern will. Aber es hat keine Wahl. Die wenigen Jahrzehnte des Friedens, die wir erleben durften, und das große europäische Erbe sollten uns die Zuversicht und den Mut für eine neue Welt verleihen, die nicht ohne unser Zutun erbaut werden darf.
Die Museen, die Geschichte, unsere Freunde - daran sollten wir denken
Was können wir tun? An Europa glauben. Und nicht vergessen, was uns stolz macht, was uns berührt, was unser europäisches Bewusstsein geformt hat. Die Museen, die wir besucht haben, die Geschichte, über die wir gelesen haben (und die, die wir erlebt haben), unsere Freunde überall in Europa, mit denen wir uns ohne Zutun der Regierungen so gut verständigen können.
Ein persönliches Beispiel: Vor der Tagung in Kopenhagen verbrachte ich mehrere Wochen im Schriftstellerhaus Hald Hovedgaard in Dänemark, gemeinsam mit dänischen Autoren. Nach ihrer Regierung zu schließen, erwartete ich, diese Dänen müssten wohl konservativ und fremdenfeindlich sein. Ihre tatsächliche Menschlichkeit ließ mich wieder einmal erkennen, dass wir Europäer viel zu schnell den nationalen Stereotypen aufsitzen, indem wir Europa in Kategorien einteilen – nach der Logik von Fußballmannschaften. Um unsere Identität zu behaupten, dürfen wir nicht aus Europa austreten. Es gilt vielmehr, das Abenteuer weiter gemeinsam zu bestehen.
Amanda Michalopoulou, geboren 1966, lebt als Schriftstellerin in Athen. Birgit Hildebrand hat ihren Text aus dem Griechischen übersetzt.
Amanda Michalopoulou