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Die Briten scheinen ihren Schritt zu bereuen.
© imago/Christian Ohde

EU nach dem Brexit: Es gibt keine Sehnsucht nach noch mehr Europa

Aus dem Brexit-Referendum muss man nicht den Schluss ziehen, viele Völker wollten die EU abschaffen. Europas Zukunft liegt in der Kooperation nationaler Regierungen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

In der Stunde der Not berufen sich alle aufs Volk. Das Volk wolle mehr Konjunktur- und Jobprogramme; Europa sei nur zu retten, wenn die EU liefere, behaupten die Sozialdemokraten mit Sigmar Gabriel – oder muss man jetzt sagen: Martin Schulz? – an der Spitze. Die Christdemokraten kontern, das wollten die Völker nicht. Es sei schon „zu viel zentralisiert“ in Brüssel, warnt Edmund Stoiber. Die nationalen Regierungen sollten Probleme durch intergouvernementale Kooperation lösen, sagt Wolfgang Schäuble. Und Helmut Kohl, lange ein Über-Europäer, schlägt vor, einen Schritt zurückzugehen, ehe es erneut vorangehen kann.

Warum haben sie nicht früher nach dem Volk gerufen? – Ach so, das haben sie ja. Nur bekamen die Verfechter von mehr Europa in Umfragen und Referenden selten die Antwort, die sie hören wollten, jedenfalls in den vergangenen 15 Jahren. Bis in die 1990er Jahre waren die Bürger einverstanden oder gar begeistert, denn der Nutzen war spürbar: Wirtschaftsgemeinschaft, gemeinsamer Markt, Wegfall der Grenzkontrollen. Die Gemeinschaft war überschaubar: erst sechs, dann zwölf, dann 15 Partner. Und der Gedanke an Vereinigte Staaten von Europa so fern, dass er niemandem Angst einjagte.

Spätestens seit dem Gipfel von Nizza im Jahr 2000, der die Bedingungen für eine Erweiterung um zehn Neumitglieder festlegte, hat sich die Dynamik gedreht: Vertrauen und Identität stiftet der Nationalstaat. Es gibt keine Sehnsucht nach noch mehr Europa. Dort, wo man die Völker über neue Integrationsschritte abstimmen ließ – der Verfassungsvertrag, die gemeinsame Währung –, lehnten einige ab.

Die EU-Erweiterung hat Verwerfungen mit sich gebracht

Aus dieser Erfahrung und dem britischen Referendum muss man nun nicht den Schluss ziehen, viele Völker wollten die EU abschaffen. Die Briten scheinen den Brexit schon wieder zu bereuen. In welchem anderen Land will überhaupt eine Mehrheit austreten? Manche wollen einige Befugnisse an die Nationalstaaten zurückgeben. Ganz viele sind dagegen, noch mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern. In einer Existenzkrise ist die Europäische Union aber nicht. Vielmehr muss man die europäische Idee vor jenen retten, die die Glaubwürdigkeitskrise der Brüsseler Institutionen für einen Sprung in Richtung Superstaat nutzen möchten, obwohl die Völker den nicht wünschen.

Auch wer die Erweiterung und Vertiefung der EU weiterhin für richtig hält – ja: für eine historische Notwendigkeit –, muss zugestehen: Sie hat enorme Verwerfungen mit sich gebracht. Auslöser der Brexit-Stimmung war die Entscheidung Großbritanniens, auf Übergangsfristen für die Freizügigkeit der Neumitglieder im Osten zu verzichten. Nach dem Gefühl vieler Briten kamen zu schnell zu viele „Fremde“ ins Land.

Ein Hauptgrund für die EU-weite Verunsicherung sind die Zweifel, ob man die Regeln, zum Beispiel des Stabilitätspakts, straflos brechen kann: erst in Deutschland und Frankreich, dann in Griechenland, nun in Spanien und Portugal. Die EU-Verfechter tragen zu dieser Unsicherheit über den Wert des Europarechts bei. Wenn ihnen die Zuständigkeit der EU missfällt, rufen auch sie nach den nationalen Parlamenten wie jetzt beim Handelsabkommen Ceta, obwohl es laut Rechtsgutachten in die EU-Kompetenz fällt.

Die Klugheit gebietet jetzt Beschränkung: Europas absehbare Zukunft ist kein Superstaat. Sie liegt in der Kooperation nationaler Regierungen. Und in mehr Respekt vor Europas Recht.

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