„Drei Schwestern“ am Deutschen Theater: Die Logik der Latexmaske
Zombie-Marionettentheater: Karin Henkel inszeniert „Drei Schwestern“ im Deutschen Theater Berlin – in einer Fassung „nach Tschechow“.
Am Anfang sieht es so aus, als wollten diese „Drei Schwestern“ Hollywood Konkurrenz machen. Da steht die Ausnahme- Schauspielerin Angela Winkler als Jüngste, Irina, in einem Retro-Landhaus- Salon und wird von Jugenderinnerungen angeweht. Effektvoll hallen Stimmen aus dem Off durchs Deutsche Theater. Bombastisch dringen Sätze aus längst vergangenen Jahrzehnten ans gereifte Irina-Ohr.
Das Ganze spielt sich in einer Inneneinrichtung ab, die alle Ansprüche gehobenen Stilstrebertums erfüllt. Hier bemäntelt der gemeine Bobo unterm Lounge- Mobiliar dürftig seine Relevanzprobleme. Zumal die Bühnenbildnerin Nina von Mechow das Ambiente tatsächlich mustergültig ins DT eingepasst hat: Der Landhaus-Kasten kann bei Bedarf sogar elegant kippen, um gefühlte 45 Grad.
Der Abend ist also noch keine fünf Minuten alt, da befindet sich der bewegliche Teil der Bühne in symbolträchtiger Schieflage. Und tot und blutig kommt zur Tür hereingerollt: Tusenbach, jener unglückliche junge Offizier, den Irina mit zwanzig aus eher pragmatischen Gründen zu heiraten sich durchgerungen hatte und der dann in Anton Tschechows Stück im Duell stirbt. Hier begeht er Selbstmord, was weiter allerdings auch nichts zur Sache tut. Also: Schnitt.
Der Aufbruch wird auf ewig ein Traum bleiben
Nächste Szene: Trübsinnig und mit auserlesen schlechten Latexmasken vorm Gesicht stehen jetzt unten Olga, Mascha und ein junges Irina-Double an der Rampe. Wir sehen: die Geburt der „Drei Schwestern“ aus dem Geiste der gealterten Irina; zunächst als eine Art Zombie-Marionettentheater. „Ich habe immer Kopfschmerzen, seit über hundert Jahren“, barmt Olga da unter ihrer Maske hervor, deren Mundpartie irritierenderweise einen drahtigen Zahnspangen-Appeal verströmt.
Später beklagt sich auch Mascha bitterlich, „wie alt wir alle geworden sind“. Und Irina hebt in größeren Zeitabständen den gesenkten Kopf, um „nach Moskau, nach Moskau“ zu krähen, als wär’s ein besonders dröger Running Gag aus einer tausendmal abgenudelten Konserve. Schon klar: Die Geschwister Prosorow hängen hoffnungslos in der Zeitschleife und hocken auch geschlagene 117 Jahre nach ihrem Bühnendebüt am Moskauer Künstlertheater unverändert in der Provinz fest. Der Aufbruch – „nach Moskau“ – wird auf ewig ein Traum bleiben. Selbst dann, „wenn man sein Leben noch einmal von vorn anfangen könnte“.
Nun ist diese Erkenntnis in der Tat nicht rasend überraschend – weshalb sich die Regisseurin des Abends, Karin Henkel, mit ihr auch keineswegs zufriedengeben wollte. Vielmehr unternehme der Abend den Versuch – so erklärt es der Dramaturg John von Düffel in einem Podcast zur Inszenierung auf der DT-Website –, den Text durch all diese Alters- und Inszenierungsschichten hindurch noch einmal „neu zu entdecken“, ganz „anders zu hören“. Und den verfremdenden „Dreh, der einen dazu bringt“, habe man – so vermeldet der Podcast tatsächlich in überraschend festem Originalitätsglauben – in einer männlichen Besetzung der „Drei Schwestern“ gefunden. Nun ja.
Überraschungsarm und unneu
Unter den Latexmasken, die später ab- und nur punktuell mal wieder aufgesetzt werden, stecken also die DT-Ensemblemitglieder Bernd Moss, Michael Goldberg und Benjamin Lillie. Und spielen die Prosorow-Girls haargenau so, wie man sie schon gefühlte tausend Mal gesehen hat: Moss verleiht der müden Pädagogin Olga einen gediegen pragmatischen Zug. Goldberg gibt die ehefreudlose Lateinlehrergattin Mascha, die sich in den Major Werschinin verliebt, im altbackenen schwarzen Rüschenkleid. Und mit der (Selbst-)Härte jener verhärmten Gouvernante, die man schon immer für ein stereotypes Missverständnis hielt, das aber mit unerschütterlicher Klischee-Energie durch die Frauendarstellung geistert. Benjamin Lillie legt seine Jugendversion von Irina präzise zwischen Aufbruchsflackern und rasant wachsender Vergeblichkeitserkenntnis an. Und Felix Goeser kriecht solide in die Pantoffelheldenrolle Andrejs hinein, jenes Loser-Bruders der „Drei Schwestern“, der das gemeinsame Erbe verzockt, statt die Antennen gen Moskau zu richten.
Überraschungsarm und unneu also, das alles. Und zudem seltsam substanzarm. Denn Henkel konzentriert ihre pausenlose Zwei-Stunden-Fassung „nach Tschechow“ auf die expliziten Vergeblichkeits- und Vergänglichkeitspassagen des Tschechow-Textes. Die Figuren werden so zu Thesenvorträgern; tiefenschärfefrei.
Wissen, warum wir leben
Daran ändern auch die Doppelbesetzungen nichts: Dass hier jede Schwester sozusagen gleichzeitig ihr männliches Pendant spielt – Lillie also Irina und den sie liebenden Tusenbach, Goldberg Mascha und deren Ehemann Kulygin und Moss (in Ermangelung eines Olga-Gatten wie -Liebhabers) Werschinin –, sorgt bestenfalls für kleine umsetzungstechnische Spannungsfragen: Wie inszeniert die Regisseurin wohl die Szenen, in denen die Paare gemeinsam auftreten?
Einmal, kurz vor Schluss, entwickelt sich daraus tatsächlich eine bemerkenswerte Szene. Allerdings allein deshalb, weil Angela Winkler wiederkommt. Sie übernimmt fürs Finale den Irina-Part von Lillie, der dann wieder zu Tusenbach switchen kann. Und spricht, völlig verfremdungskonzeptfrei, die Tschechow- Worte wirklich so, dass es klingt, als höre man sie zum ersten Mal. „Irgendwann werden wir wissen, warum wir leben“, sagt Winkler pur und unsentimental. „Und warum das so wehtut.“ Es sind die einzigen gegenwärtigen Momente des Abends.
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