Akram Khan bei den Wolfburger Movimentos: Die Liebe der Löwen
Der Weltklasse-Choreograf Akram Khan zeigt bei den Wolfsburger „Movimentos“ sein neues Stück „Until the lions“ – ein Höhepunkt des diesjährigen Festivals in der gebeutelten VW-Stadt.
Das altindische Heldenepos „Mahabharata“ ist eine geistige Heimat für den britischen Choreografen Akram Khan, ein unerschöpflicher Fundus an Ideen und Geschichten. Mit 13 Jahren trat der Londoner mit bangladeschischen Wurzeln in Peter Brooks legendärer „Mahabharata“-Inszenierung auf – es war seine Initiation in die Theaterwelt. Damals vermisste er seine Mutter ganz stark, erzählt Khan, deswegen nahmen ihn die Schauspielerinnen aus Brooks Truppe unter ihre Fittiche.
Wenn der Starchoreograf, der in seinen Arbeiten östliche und westliche Einflüsse verschmilzt, in seinem neuen Tanzstück auf das Sanskrit-Epos zurückgreift, dann ist das eine Verbeugung vor der Kraft der Frauen und den Darstellerinnen von damals. Er rückt eine der weniger bekannten Frauenfiguren ins Licht. Seine Choreografie „Until the lions“ ist von der Geschichte Ambas inspiriert, der die Männer so übel mitspielen, dass sie nach Rache sinnt. Das Stück, das im Januar seine Uraufführung in London erlebte, ist einer der Höhepunkte der bis zum 10. Mai laufenden „Movimentos“-Festwochen in der Autostadt in Wolfsburg. Es ist die 14. Ausgabe, und sie findet vor dem Hintergrund des VW-Dieselskandals statt.
Khan wollte sich dem „Mahabharata“ aus weiblicher Perspektive nähern, betont er beim kurzen Gespräch in der Garderobe des Roundhouse in London. Den Anstoß zu der Neuinterpretation gab die indische Schriftstellerin Karthika Nair. Die Autorin und Tanzproduzentin hat schon in dem hochgelobten Solo „Desh“ von 2011, das auf der halbfiktiven Lebensgeschichte Khans basiert, mit Khan zusammengearbeitet. In ihrem Gedichtband „Until the lions. Echos from the Mahabharata“ fühlt sie sich in einige der unbesungenen Heldinnen und Helden hinein. Nair zitiert ein afrikanisches Sprichwort: „Bis die Löwen ihren eigenen Historiker haben, wird die Geschichte der Jagd immer den Jäger rühmen.“ Immer schreibe der Sieger die Geschichte, nicht der Geschlagene, stellt Khan fest.
Kahn hat die Geschichte auf ihren dramatischen Kern reduziert
Die Geschichte Ambas zeigt, wie Frauen zum Spielball männlicher Interessen und Begierden werden. Die Prinzessin Amba wird zusammen mit ihren beiden jüngeren Schwestern von Bhisma entführt. Der will sie mit seinem Stiefbruder vermählen. Da Amba jedoch bereits einem anderen versprochen ist, lässt Bhisma sie wieder gehen. Doch der Geliebte verschmäht die geraubte Braut, da er an ihrer Jungfräulichkeit zweifelt. Daraufhin wendet sie sich an Bhisma, doch der hat geschworen, niemals zu heiraten. Auch er weist Amba ab, wie eine beschädigte Ware. Jede Chance auf eine respektable Existenz wurde ihr genommen. Sie ist jetzt weder Frau noch Mann. Doch im Mythos kommt es zu einer Transformation. Amba stirbt und wird als Mann Shikandi wiedergeboren. Dessen Bestimmung ist es, den Eroberer Bhisma zu töten und das Unrecht zu sühnen.
„Das Stück handelt von einer Frau, die zurückgewiesen wird“, bringt Khan seine Version auf den Punkt. Er hat die Geschichte auf ihren dramatischen Kern reduziert. Ihn beschäftigen die universellen Themen Macht, Liebe und Rache. Mit der Taiwanesin Ching-Ying Chien und der in Berlin lebenden Tänzerin Christine Joy hat Akram Khan sich zwei starke Partnerinnen gesucht. Die zierliche Ching-Ying Chien verkrümmt sich heftig als verschmähte Amba und mutiert dann zu einer Rachefurie. Ritter steckt als Shikandi zunächst mit animalischen Bewegungen ihr Revier ab und verwandelt sich dann in eine schöne Kriegerin.
Die drei Tänzer haben hier einen ganz unterschiedlichen Bewegungsstil. Khan, der den Eroberer Bhisma verkörpert, gründet seine Deutung auf dem klassischen indischen Kathak-Stil. Er ist als charismatischer Tänzer bekannt. In seinen frühen Kathak-Solos verbindet er eine ekstatische Energie mit einem hohen Formbewusstsein. Auch hier zeigt er wirbelnde Drehungen. Doch als düsterer Bhisma hat er nichts Geschmeidiges, er leiht ihm vielmehr etwas Rigides, Gepanzertes. Die Konfrontationen auf der runden Bühne sind fesselnd. Ein Höhepunkt ist das Duett-Duell zwischen Amba und Bhisma, das zwischen Anziehung und Abwehr changiert. Begleitet werden die Tänzer von vier Musikern, die Folkmusik aus unterschiedlichen Ländern spielen.
Seit Khan eine Tochter hat, betrachtet er die Welt mit ihren Augen
Es ist auch Persönliches in das Stück geflossen. Vater zu sein, ist eine wichtige Erfahrung für den 41-Jährigen: „Seit ich eine Tochter habe, betrachte ich die Welt mit ihren Augen.“ Ambas Geschichte ist für ihn noch lange nicht vorbei: „In Indien müssen die Frauen noch für ihre Gleichberechtigung kämpfen.“ Khan öffnet die herkömmlichen Geschlechterrollen, dabei interessiert ihn vor allem der Genderswitch. „Gender ist so vorherrschend im klassischen indischen Tanz“, sagt er. Und als kleiner Junge zog er schon mal den Sari seiner Mutter an, um in eine weibliche Rolle zu schlüpfen.
Ironischerweise war Khan, der Frauenversteher, Anfang des Jahres in eine Genderdebatte verstrickt. Thema war die Benachteiligung von Choreografinnen in der britischen Tanzszene. Khan wandte sich gegen eine Quote und meinte, Frauen sollten nicht nur gefördert werden, weil sie Frauen sind. Ein tanzender Macho ist Akram Khan gewiss nicht, davon kann man sich in „Until the lions“ überzeugen. Da zeigt er Frauen, die das Herz einer Löwin haben.
Neben der sexuellen Ambiguität geht es ihm aber auch um eine spirituelle Dimension. „Liebe“ ist diesmal das Motto von Movimentos. Ist das nun Mut zum Gefühl oder Anbiederung ans Publikum? Das Tanzprogramm setzt auf große Emotion, feiert kulturelle Vielfalt. Eröffnet wurde das Festival am Freitag von dem spanisch-französische Choreografen José Montalvo, der schon drei Mal im KraftWerk zu erleben war. „Y Olé“ ist eine fröhliche Melange aus Ballett, Hip-Hop, Flamenco und afrikanischem Tanz. Der französische Choreograf Abou Lagraa zeigt mit seiner Compagnie La Baraka „Cantique des Cantiques“, eine Adaption des Hohelieds aus dem Alten Testament. „Conceal / Reveal“ verbindet drei Choreografien, die der Brite Russell Maliphant mit dem Lichtdesigner Michael Hulls entwickelt hat. Zum Abschluss zeigt die italienische Compagnia Aterballetto die Choreografien „Lego“ von Guiseppe Spota und „Antitesi“ von Andonis Foniadakis. Ein Programm mit bewährten Künstlern auf hohem internationalen Niveau.
Manchmal ist Liebe aber machtlos. Oder einfach zu Ende. Dies ist wahrscheinlich das letzte Mal für die Movimentos in der bisherigen Form in der Autostadt. Volkswagen drohen wegen des Abgas-Skandals hohe Straf- und Schadensersatzzahlungen.
Informationen unter www.movimentos.de