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Ring um Ring, Jahr um Jahr. Stamm einer Küsten–Kiefer im amerikanischen Yellowstone Park.
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Neues Buch von Rüdiger Safranski: Die Langeweile lieben lernen

Rüdiger Safranski durcheilt in seinem neuen Buch "Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen" die Philosophiegeschichte, um die Geheimnisse der Zeit zu ergründen.

Da tritt ein Radfahrer in die Pedale, unentwegt. Zwei Sekunden – rauf. Und jetzt wieder: zwei Sekunden – runter. Und jetzt und jetzt und jetzt. Das ist die Zeit, die jeden Augenblick vergeht. Wer Zeit so wahrnimmt, dass er sich nur noch auf dieses Wahrnehmen fixiert, entfernt sich aus dem Bereich des Normalen, er gilt als krank. Aber die Zeit steckt in allem, was ist und war und sein wird. Welche Möglichkeit haben wir, um sie zu erfassen? Warum sollten wir das tun? Weshalb also sollten wir ein Buch von Rüdiger Safranski lesen, der vage erklärt, es gehe ihm darin um ihre „eigentliche Bedeutsamkeit“? Seinen Annäherungsversuch unternimmt er auf der Spur ihrer Wirkungen: „Ich beschreibe also, was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen.“

Safranski hat schon viele Bücher über große Themen und Personen geschrieben – über die Wahrheit und das Böse, über Schopenhauer, Heidegger, Schiller und Goethe. Er weiß, wie man den Leser erreicht. Die handfeste Formulierung, die der Zeit den Vortritt lässt, weckt sofort Interesse: Was also macht sie mit uns? Das wollen wir wissen. Und sind schon drin, im Sog einer faszinierenden Sache und an der Seite des Autors.

Dabei dürfte er nach der Zeit auf diese Art eigentlich nicht fragen. Sie „macht“ nichts, sie ist kein Akteur. Sie ist das Medium, in dem sich alle Dinge ereignen – aber nicht die Kraft, die sie bewirkt. Wir sagen beispielsweise: Die Zeit heilt alle Wunden. Aber es ist nicht ihr zu verdanken, wenn wir ein schmerzhaftes Ereignis allmählich weniger spüren, sondern dem, was wir im Laufe der Zeit erleben und erfahren – als Hauptfigur einer Geschichte, die weitergeht. Und ob das Gewicht der Gegenwart stärker ist, muss dabei letztlich offen bleiben. Es kann auch sein, dass uns der Abstand zur Vergangenheit nicht gelingt.

Der Autor kippt das Füllhorn seines Wissens dem Leser vor die Füße

Safranski, der den Begriff einer „Herrschaft der Zeit“ von dem kürzlich verstorbenen Michael Theunissen übernimmt, um damit gelegentlich zu argumentieren, schlägt vor, sich selbst die Machtfrage zu stellen: „Lasse ich mich von der Vergangenheit beherrschen oder beherrsche ich sie?“ Er geht mit Nietzsche davon aus, dass Menschen die Kraft haben, das Vergangene als einen Stoff zu gebrauchen, der ihr Leben weitertreibt.

Tatsache ist, dass wir uns in der Zeit entwickeln und verändern – und uns doch als ein und dieselbe Person bewahren und behaupten. Dieser Aspekt – Safranski nennt ihn das „temporalisierte Selbstverhältnis“ – ist zentral, wenn es um die „eigentliche Bedeutsamkeit“ der Zeit geht. Für uns ist er der rote Faden, um im Buch nicht unterzugehen. Und der Grund, weshalb das Lesen sich lohnt, obwohl der Autor das Füllhorn seines Wissens seinen Lesern vor die Füße kippt.

Was für ein Sammelsurium! Ein Kabinett der Denker und Dichter, quer durch die Zeiten, bis hin zur problematischen Gegenwart. Sicher, als Meister der Vermittlung sorgt Safranski für Orientierung: Er bündelt das bildungspralle Material in zehn Kapiteln, die er jeweils mit einem kleinen Strauß verlockender Stichworte eröffnet. Kapitel drei zum Beispiel heißt „Zeit der Sorge“. Und hereingelockt wird man, um ein paar Kostproben zu geben, mit „Heideggers Sorge: der Welt verfallen und dem Tod ausweichen“. Und später, auf den Spuren von Ulrich Beck: „Die modernisierte Sorge in der Risikogesellschaft“. Und abschließend, offen und rätselhaft: „Die Rückkehr der alten Sorge“.

Zurück zum „temporalisierten Selbstverhältnis“. Man könnte auch sagen: zu unserer „Eigenzeit“. Safranski definiert sie lässig, einmal als „Zeiterfahrung am eigenen Leibe“, ein anderes Mal als Zeit, die „primär nach den Bedürfnissen und Rhythmen des eigenen Lebens“ zu gestalten ist. Jedenfalls verbindet er mit dieser Eigenzeit ein Anliegen, das ihn – wie schon 2003 in seinem Essay zur Kritik der Globalisierung – als Aufklärer der Gegenwart zeigt. Seine Botschaft läuft darauf hinaus, uns mit dem Wert unserer Eigenzeit zugleich eindringlich bewusst zu machen, wie gefährdet sie ist.

Das Labyrinth der Eigenzeit kann etwas Verstörendes haben

Die smarte Technologie der Kommunikation, durch die „das Gleichzeitige, vor dem wir durch Raumdistanzen geschützt waren, in unsere Eigenzeit eindringt“, markiert nur die sichtbare Oberfläche: Generell wird der Rhythmus des eigenen Lebens durch die „öffentlich-gesellschaftliche Normierung“ unterdrückt und beherrscht. Sie macht sich den Takt der Zeit zunutze, wie die Uhren sie messen. Und dass dabei das Prinzip der Wirtschaft dominiert, ist aus Safranskis Sicht so klar erkennbar, dass er die „Verteidigung der Eigenzeit“ zur Aufgabe der Politik erklärt: Sie soll sich selbst und uns alle aus den Fängen der Ökonomie befreien.

Das ist ein gut gemeinter, wenn auch keineswegs origineller Vorschlag. Aber gleich, ob er überhaupt an die Möglichkeit glaubt, diesen Wunsch zu realisieren – interessant ist etwas anderes. Im selben Atemzug, in dem er für ihre Rettung kämpft, will uns Safranski auch davor beschützen, unsere Eigenzeit zu erfahren – sozusagen unsere eigentliche Eigenzeit. Denn er gibt zu, dass mit seiner Forderung, das Bewahren der jeweiligen Eigenzeit zum politischen Thema zu machen, deren „tiefere Dimension“ noch gar nicht berührt sei.

Vielleicht, überlegt er, bleibe man ja auch deshalb so gerne im gesellschaftlichen Getriebe, „weil die Labyrinthe der Eigenzeit, wenn man in sie eindringt, etwas Irritierendes, auch Verstörendes haben“. Was meint er mit den verschiedenen Dimensionen der Eigenzeit? Tauchten sie nicht schon im ersten Kapitel auf, in dem er die „Zeit der Langeweile“ mithilfe so vieler Positionen skizzierte, dass wir den Überblick verloren?

Wir drängeln uns vorbei an Schopenhauer, Thomas Mann, Pascal und Kierkegaard. Wir ignorieren auch Wladimir und Estragon. Jeder kann nachlesen, weshalb Becketts Figuren, wartend auf Godot, das „Grundgesetz der Unterhaltung“ verkörpern, das die Langeweile mit denselben Mitteln züchtet, mit denen sie vertrieben werden soll. Wir möchten den Kern der Eigenzeit verstehen – und tatsächlich, Safranski erklärt ihn hier mit Heidegger, dem Experten aller Tiefendimensionen. Denn auch die Langeweile, die wir möglichst vermeiden, ist für Heidegger nur ein Auftakt. Kommt doch in diesem Zustand die Zeit an sich zum Vorschein – für uns als Lücke in der Ereignisreihe, die wir wieder schließen. Für Heidegger als eine Leere, als das Nichts, das ihn magisch anzieht.

Das ist die Zeit, die jeden Augenblick vergeht

Das erklärt Safranski, um seine Leser auch in diesem Zusammenhang gleichzeitig zu ermuntern und zu warnen, dem Beispiel zu folgen, die Langeweile also nicht zu vertreiben, sondern auszuhalten – bis „nicht nur die Welt, sondern auch das eigene Selbst entgleitet“. Wir verstehen, dass die eigentliche Eigenzeit mit diesem Nichts zu tun hat, mit der Erfahrung der Zeit als Vergänglichkeit, in der alles verschwindet. Und wir ahnen, dass „solches Herausfallen“ aus der Zeit, die wir mit anderen teilen, nicht für jeden so positiv endet wie für Heidegger, den der horror vacui zur philosophischen Einsicht führt.

Rüdiger Safranski stellt seinem Publikum zwar in Aussicht, nach der Rückkehr aus dem Labyrinth der Eigenzeit intensiver, auch selbstbewusster zu leben. Aber er bietet nichts an, um den Rückweg zu finden. Er zieht es vor, auf die Gefahrenzone immer wieder hinzuweisen, die er auch mit Hegel als Furie des Verschwindens umschreibt: Jetzt und jetzt und jetzt – das ist die Zeit, die jeden Augenblick vergeht. Die uns gehört. Eine Zeit lang. Denn jeder ist endlich. Und jeder wird „ein letzter Zeuge für Dinge, Menschen, Erlebnisse sein, die mit ihm unweigerlich verschwinden“.

Rüdiger Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Carl Hanser Verlag, München 2015. 272 Seiten, 24,90 €.

Angelika Brauer

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