Kultur: Anatomie der Schnecke
Betrachtungen eines Unpolitischen: Rüdiger Safranskis Goethe-Biografie.
Neues über Goethe schreiben? Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts verzweifelte der frühe Biograf Karl Rosenkranz an der „Unermesslichkeit“ der Literatur. Heute ist sie schlicht nicht mehr zu erfassen. Die Auflistungsversuche in den Jahrbüchern der Goethe-Gesellschaft gleichen dem Wettlauf zwischen Hase und Igel. Der Anspruch auf bibliografische Vollständigkeit erscheint auch nicht sinnvoll, da die „Erkenntnisse“ sich oft wiederholen oder Titel irreführend sind. Die meisten Goethe-Deuter hoffen, ihr Menschen- und Gesellschaftsbild in Werk und Leben des Dichters wiederzufinden und negieren alles Entgegenstehende, wir haben es also in der Regel mit Projektionsliteratur zu tun. Das gilt natürlich auch und vor allem für Biografien. Eine der löblichen Ausnahmen war Karl Otto Conradys sachliche Bestandsaufnahme „Goethe. Leben und Werk“ (1994), die sich bescheiden erhoffte, „wenigstens nicht die falschen Fragen hervorgebracht zu haben“.
Rüdiger Safranski stellt uns nun Goethes Leben „als Kunstwerk“ vor und hat kaum Fragen. Schon in der Einleitung wird die Projektion zum Programm erklärt: „Jede Generation hat die Chance, im Spiegel Goethes auch sich selbst und die eigene Zeit besser zu verstehen.“ Man könne am Beispiel Goethes lernen, was „ein gelungener geistig-seelischer Stoffwechsel mit der Welt“ sei. Und der Autor verspricht Authentizität. Sein Buch nähere sich „diesem vielleicht letzten Universalgenie ausschließlich aus den primären Quellen“. So werde Goethe „lebendig“ und trete auf „wie zum ersten Mal“.
Aber wie trat Goethe zum ersten Mal auf? Die Schilderungen seiner einschüchternden Gottähnlichkeit waren nicht nur das Ergebnis einer Verklärung durch idealistische Philosophen wie Schelling, sondern zu einem nicht unwesentlichen Teil auch perfekte Eigenstilisierung. Das Goethe-Bild der Deutschen spiegelt in vielen Aspekten das Goethe-Bild Goethes. Richtig ist, dass sein Nachruhm in Deutschland zunächst von den Jubiläumsfeiern für den „Freiheitsdichter“ Schiller überlagert wurde – doch dass Goethe sich, wie Safranski findet, „ganz und gar nicht“ für nationale Feierstunden geeignet habe, zeugt von verblüffender Ignoranz.
Sicher war Goethe realistischer als der pathetische Schiller, doch in eine patriarchalische, bürgerliche Ordnung ließ er sich als nationale Kultfigur wunderbar einbinden. Schon im Juni 1833 hatte Goethes Sekretär, der Philologe Friedrich Wilhelm Riemer, das Programm für die Keimzelle des organisierten Erinnerungskultes formuliert: „Wir Deutschen feiern in Goethe eigentlich unsere Verklärung und Glorifikation. Das ist die Blüte und Frucht des deutschen Wesens bis jetzt.“
Die Hochstimmungen des Kaiserreichs ermöglichten ein „ganzheitliches“ Nacherleben von Person und Idee und selbst nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges sollte die „Wandlung vom Imperialismus zum Idealismus, von der Weltmacht zur geistigen Größe“ (Friedrich Ebert) mit Goethe begründet werden. Ein Propagandist dieses „geistigen Programms“ war auch der populär historisierende und psychologisierende Biograf Emil Ludwig. Nicht zufällig erschien 1920 sein „Goethe“ als „Geschichte eines Menschen“. Das Buch erreichte eine Millionenauflage und wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Ludwig wollte Goethe nicht „zu den Göttern erheben“, sondern dessen „Seelenleben“ für die Nachwelt im humanen Sinn „produktiv“ machen. Doch nach 1933 musste er sich das Scheitern dieser Idee eingestehen, wurde im US-Exil Berater von Präsident Roosevelt und schrieb eine neue „Geschichte der Deutschen“. Ähnlich wie Thomas Mann im „Doktor Faustus“ war auch er zu der Auffassung gelangt, dass der Geist der Goethezeit mitverantwortlich für die „Seelenverwandtschaft“ von Deutschtum und Nationalsozialismus sei.
Dazu äußert sich Safranski nicht. Auch sein Goethe konnte „wunderbar ignorieren“. Er „wusste, was man in sich hineinlässt und was nicht“, denn er wollte immer zu einem „guten Ergebnis“ kommen. Nicht nur beim Realisieren seiner Werke und dem Erledigen seiner „Dienstpflichten“ – ebenso bei der Gestaltung seiner Männerfreundschaften und Verführung von empfindsamen Damen, die ihm überall „die Arme entgegenstrecken“. Vor unliebsamen Störungen schützte ihn die Beschäftigung mit der Natur: „Wenn ihm die Leute mit politischen Nachrichten und Meinungen kamen, erzählte er ihnen einiges über die Eingeweide des Frosches oder die Anatomie der Schnecke.“
Für Safranski ist es eine „seit der Goethezeit“ universell gültige Erkenntnis, dass Freiheit „nicht erklärt, sondern nur gelebt werden“ könne. Doch gereicht es dem Autor des „Werther“ zur Ehre, die Freiheit „nie politisch-rhetorisch gefordert“, sondern nur „schöpferisch“ für sich allein genutzt zu haben? Was die Praxis von Freiheits- und Menschenrechten betrifft, steht die Ethik der Weimarer Klassik längst auf dem Prüfstand.
Safranskis Buch ist zugleich eine Selbstbestimmung des Biografen. Heute, wo es „nicht günstig“ um „die Entstehung von Individualität“ bestellt sei, müsse man bewundern, wie Goethe es verstanden habe, „ein Einzelner zu bleiben“. Seine vorbildliche „Lebensklugheit“ sei ebenso klassisch wie seine Werke. Fasziniert entdeckt Safranski ein perfektes „geistig-seelisches Immunsystem“. Damit kann er sich identifizieren, denn das erleichtert sein Anliegen: demonstrative Abkehr vom Politischen und Gesellschaftskritischen – stattdessen ein behagliches Einrichten in den Traditionen deutscher Innerlichkeit mit harmonischer Weltsicht.
Schon aus seinem Buch „Romantik – Eine deutsche Affäre“ hatte Safranski alle zeitpolitischen Bestrebungen aus Werk und Leben der Betroffenen herausoperiert. Und Schopenhauers „Wildheit“ reduzierte sich für ihn darauf, die „Denkfreiheit“ nach der Revolutionsenttäuschung von 1848 durch „eine starke Handlungshemmung“ zu kompensieren. Das Gassi-Gehen mit dem Pudel wurde zur wichtigsten öffentlichen Angelegenheit erklärt. Solche Botschaften waren Balsam nicht nur für resignierte Alt-68er.
Mit derlei harmlosen Deutungen von Idealismus, Romantik und Klassik versucht Safranski den verdrängten „deutschen Geist“ für seine Leser neu zu ordnen. So erfand er am Beispiel Nietzsches das Patentrezept vom druckausgleichenden „Zweikammer-System“ in den Köpfen der deutschen Geistesgrößen und betonte gleichzeitig seine eigene Nähe zu Thomas Manns berüchtigten (später revidierten) „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Der alte Konflikt zwischen Kultur und Zivilisation sei auch heute noch aktuell. „Ein bisschen schwanger“, das gehe nicht – „ein bisschen deutscher Sonderweg sehr wohl.“
Dass aber das Zweikammer-System für Goethe zu eng ist, scheint Safranski zu spüren, wenn er lustlos in der Faust/Mephisto-Problematik herumstochert. Im „Zusammenspiel“ des Metaphysikers Faust und des Realisten Mephisto zeige sich „das Betriebsgeheimnis der Moderne“: Man könne erkennen, „wie die ehemals vertikal gerichtete Strebung in die Horizontale umgebogen und dadurch unerhört geschichtsmächtig“ werde.
Selbst wenn man von dem Philosophen Safranski nicht unbedingt eine Einmischung in Frank Schirrmachers faustisch anmutende Kampfbeschreibungen im digitalen Zeitalter erwartet, klingen seine Erkenntnisse zu zeitlos-formelhaft. 60 Jahre Arbeit an seinem „Hauptgeschäft“ haben den „Faust“ zu Goethes Psychogramm werden lassen. Entsprechend anschaulich hat etwa der Psychoanalytiker Kurt E. Eissler die sublimierte Triebstruktur des Autors für die titanische Leistung seiner Dramenfigur verantwortlich gemacht. Ob sich Goethe jedoch eindeutig für eine der intellektuellen Ratio überlegene maskuline Fantasiegestalt des Abendlandes entschieden hat, bleibt offen. Immerhin scheint Safranski zu ahnen, dass es da auch „dunkle Seiten“ gibt.
Rüdiger Safranski: Goethe – Kunstwerk des Lebens. Hanser Verlag, München 2013. 750 Seiten, 27,90 €.
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