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Offene Bühne. Shermin Langhoff, Pionierin des postmigrantischen Theaters, leitet das Gorki seit 2013.
© Doris Spiekermann-Klaas

Gorki-Chefin Shermin Langhoff: "Die Lage in der Türkei verfinstert sich täglich"

Die Gorki-Chefin im Gespräch über die Notwendigkeit politischer Intervention und kulturellem Engagements - und das Erbe des vor zehn Jahren ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink.

Frau Langhoff, am 19. Januar jährt sich die Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink in Istanbul zum zehnten Mal. War dieses Verbrechen ein Vorschein dessen, was in der Türkei geschieht?

Ein Vorschein, aber auch ein Nachschein. Die Ermordung Hrant Dinks kann man genau so wenig wie alles andere, das gegenwärtig in der Türkei geschieht, losgelöst von den historischen Komplexitäten betrachten. Wir haben es mit einer Republik zu tun, die nicht nur auf einer Befreiung von den Resten des osmanischen Reiches und von imperialen Kräften gründet, sondern auch auf dem Völkermord an den Armeniern 1915, bei dem die türkisch-deutsche Freundschaft eine Rolle spielte. Es gab über eine Million Tote. Insofern ist Hrant Dink über eine Million plus eins. Zugleich geschah der Mord an ihm in einer Zeit, in der die heutigen Machthaber bereits großen Einfluss hatten, wenngleich in anderen Positionen.

Markiert der Mord eine Zäsur?

Anlässlich seiner Beerdigung in Istanbul sind hunderttausend Menschen auf die Straße gegangen, mit Schildern, auf denen stand: „Wir sind Hrant Dink“, „Wir sind Armenier“. Was in einem Land, in dem „Armenier“ als Schimpfwort benutzt wird, ein hoffnungsvoller Moment war. Hrant Dink hat das Verhältnis zwischen Türken und Armeniern mit dem ihm eigenen Humor als pathologisch beschrieben. Von ihm stammt der Satz: „Wir Türken und Armenier sind hoffnungslose klinische Fälle, und es gibt auch keine Ärzte für uns. Wer kann uns also behandeln? Die einzige Heilung liegt im Dialog“. Das machte ihn bei vielen unbeliebt, bei nationalistischen Türken wie nationalistischen Armeniern.

Wie hätte eine Versöhnung denn aussehen können?

Einer seiner emotionalsten, radikalsten Essays trägt den Titel „23,5“. Darin findet sich eine Frage, die Hrant Dink zeitlebens umgetrieben hat: Weshalb können sich beide Seiten nicht bei dreiundzwanzigeinhalb treffen und die Trauer über den Verlust ebenso gemeinsam begehen wie die Freude auf die Zukunft? In der Nacht vom 23. auf den 24. April wurden die Armenier in Istanbul deportiert. Bei der Republikgründung wurde der 23. April zum Feiertag der nationalen Souveränität und des Kindes erklärt. Die Kinder ziehen an diesem Tag symbolisch in die Parlamente ein, in jeder kleinen Stadt sieht man Kinder in Uniformen mit türkischen Flaggen winken. Das geschieht in dem Wissen, dass genau in dieser Nacht die Überlebenden des Genozids die Kinder betrauern, die niemals solche Feste feiern konnten.

Trotzdem wurde Dink als vermeintlicher Radikaler angefeindet.

Obwohl er die Anerkennung des Völkermords nicht zur Bedingung für den Beginn eines Dialogs gemacht hat, wurde ihm genauso wie allen Armeniern der Vorwurf gemacht, Land von den Türken zurückhaben zu wollen. Dazu hat er gesagt: „Ja, wir haben es auf dieses Land abgesehen. Aber nicht, um es an uns zu reißen, sondern um hier begraben zu werden“.

Steht sein Name noch für den Glauben an die Utopie oder für ihr Scheitern?

Für die jeweilige Betrachtung trägt jeder selbst die Verantwortung. Sich gar nicht mehr einzumischen, sich nicht mehr zu interessieren, das wäre das Fatalste. Aber genau das geschieht gegenwärtig teilweise in der Türkei. Es ist eine präfaschistische Situation. Man fragt sich ja immer, wie es möglich war, dass so viele zugeschaut haben? Genau wegen solcher Prozesse: Man fürchtet um seinen Job, die Eltern warnen, sieh dich vor, man hat Angst um die Kinder. So entwickeln sich Pragmatismen. Und es gab in der Türkei in jüngerer Zeit ja bereits zwei Militärputsche, zwei große Zäsuren, nach denen jeweils eine Generation von kritischen Denkern, Journalisten und Künstlern vernichtet oder ins Exil getrieben wurde.

Die Situation in der Türkei ist mittlerweile von außen kaum noch durchschaubar. Am Gorki Theater gab es mit dem Stück „Love it or leave it“ immerhin den Versuch, das Land auf die Couch zu legen.

Aus dem Abend spricht sicher auch eine gewisse Verzweiflung: Wie kann man eine Gegenwart, die schon so theatral ist, noch künstlerisch fassen? Es gibt ja das berühmte Foto, auf dem Erdogan in seinem pompösen Präsidentenpalast flankiert von 16 Personen in historischen Militärkostümen den Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas empfängt. Das sollte an die 16 Reiche erinnern, die als Vorfahren der heutigen Türkei gelten, sieht allerdings eher nach Walt Disney aus. Leider ist das alles nicht wirklich lustig.

Über die Mehrheit für Erdogan darf man sich nach wie vor wundern.

Auch diese Mehrheit muss man differenziert betrachten. Sie gründet ja nicht nur auf ungebrochener Begeisterung, dahinter stehen auch Strategien, mit denen etwa die Gülen-Anhänger vor der Wahl noch abgeholt wurden. Es gibt einen fast omnipotenten Wahlaktivismus der AKP. Wir wundern uns in Deutschland ja auch, wie letztlich so wenige AfDler, Pegidisten, Identitäre oder Faschisten einen derartigen Wind machen und den Diskurs bestimmen können. Auch die AKP war in ihren Anfängen eine kleine, aber wahnsinnig gut organisierte Truppe.

Und wie ist jetzt die Lage für die Kulturschaffenden in der Türkei?

Im Moment ist es eine Übergangssituation, die sich jeden Tag mehr verfinstert. Ich fürchte, die große Zäsur werden wir im April mit dem Verfassungsreferendum erleben. Wenn das Präsidialsystem und die totale Herrschaft durchgesetzt sind, werden wir wissen, was die Stunde geschlagen hat und ob die verbliebenen liberalen Räume, die schon jetzt immer privater werden, noch möglich sind. Man darf ja nicht vergessen, dass im Moment der Ausnahmezustand herrscht.

Hrant Dink. Der türkisch-armenische Journalist wurde am 19. Januar 2007 in Istanbul vor dem Verlagshaus der Zeitung "Agos" erschossen.
Hrant Dink. Der türkisch-armenische Journalist wurde am 19. Januar 2007 in Istanbul vor dem Verlagshaus der Zeitung "Agos" erschossen.
© AFP

Was bedeutet das konkret?

Das bedeutet zum Beispiel, dass in Diyarbakir vor wenigen Wochen die 25 Ensemblemitglieder des örtlichen Theaters entlassen worden sind. Kurz nachdem die kurdische Bürgermeisterin der liberalen HDP verhaftet wurde. Damit ist das Theater geschlossen. Es gibt in Diyarbakir auch ein tolles neues Kulturzentrum, bloß sind dort momentan keine Veranstaltungen erlaubt, jedenfalls keine kulturellen. Denn die könnten, so die offizielle Begründung, aufwieglerisch wirken. Und den Rest erstickt in Zeiten des Ausnahmezustands die Selbstzensur. Es gibt nur wenige Ausnahmen.

Eine weitere Erschütterung war der Anschlag auf den Club Reina in Istanbul in der Silvesternacht.

Dabei wurde vor allem der Glaube erschüttert, Neoliberalismus und Diktatur seien vereinbar, alles sei in Ordnung, solange noch hedonistische Partys in geschlossenen VIP-Räumen gefeiert werden können. Das war ein Angriff auf dieses Lebenskonzept und er hat gezeigt, dass die Regierung die Lage gar nicht im Griff haben kann. Denn das wäre doch eigentlich das Versprechen einer islamischen Regierung – dass es keine islamistischen Anschläge gibt, oder?

Gibt es am Gorki vermehrt Anfragen von türkischen Kolleginnen und Kollegen, die nach Berlin ins Exil gegangen sind?

Selbstverständlich. Natürlich sind die meisten im Moment sehr vorsichtig damit, öffentlich zu bekunden, dass sie als politische Flüchtlinge hier leben – weil die Situation einfach noch ungeklärt ist. Womit Can Dündar und viele andere momentan rechnen müssen, sind Prozesse von Ausbürgerung und Enteignung. Auch in der AKP sind die liberaleren Stimmen verstummt. Der Vorsitzende der HDP Demirtas sitzt im Gefängnis – immerhin eine der Parteien, die im Parlament sitzen. Ein Facebook- oder Twitter-Eintrag genügt momentan, um angezeigt oder inhaftiert zu werden.

Was müsste denn in Ihren Augen von hiesiger politischer Seite aus geschehen?

Neben politischen und ökonomischen Interventionen ist die Fortführung eines kritischen Dialogs notwendig, so sollten Parlamentarier aus dem Bundestag und andere Regierungsverantwortliche aus dem Westen in der Türkei inhaftierte Journalisten oder Politiker besuchen, um den Dialog nicht abreißen zu lassen und klar zu machen: Die Welt schaut auf euch. Auch darauf, wie ihr umgeht mit euren politischen Gefangenen, denn es gibt besorgniserregende Berichte von eklatanten Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen.

Am Gorki gibt es seit einigen Wochen ein Exil-Ensemble mit Schauspielerinnen und Schauspielern aus Syrien, Afghanistan, Palästina und anderen Ländern. Braucht es jetzt noch ein türkisches Exil-Ensemble?

Wir sind ja zum Glück nicht die einzigen, die sich engagieren. Can Dündar baut mit „Correctiv“ das größte Exilmedium zur Türkei auf. Organisationen wie „Reporter ohne Grenzen“ oder der PEN-Club waren von Anfang an engagiert. Für darstellende Künstler existieren allerdings keine vergleichbaren Netzwerke. Natürlich wäre es wünschenswert, dass sich die deutschen Stadttheater, die ja ein besonderes Produkt auch der Nachkriegszeit sind, zusammenschließen und mit geförderten Programmen den einen oder anderen türkischen Schauspieler, Regisseur, Techniker oder Autor bei sich beschäftigen. Über ein mögliches Projekt sind wir im Gespräch mit dem Auswärtigen Amt, der Kulturstiftung des Bundes und hoffentlich demnächst auch mit dem Deutschen Bühnenverein.

Wird die Spaltung der türkischen Gesellschaft noch zunehmen?

Jeden Tag verlassen mehr Menschen die Türkei. Auch solche, die noch nicht verfolgt werden, die aber sagen: Man kann mit „diesen Barbaren“ nicht zusammenleben. Das alltägliche Leben ist von Ideologie vergiftet. Von sozialer Kontrolle, wo ein Nachbar genügt, um einem das Leben zur Hölle zu machen. Auch dazu gibt es ein Zitat von Hrant Dink: „Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrecht erhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit“.

Das Gespräch führte Patrick Wildermann.

Mit der Veranstaltung Hrant Dink (Ge)denken erinnert das Gorki Theater am Donnerstag, 19. Januar, ab 19.30 Uhr an den ermordeten armenischen Journalisten. Der in der Türkei verfolgte Journalist Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, liest zusammen mit Schauspielerinnen und Schauspielern des Gorki-Ensembles aus Dinks Essays und Texten.

Im Gorki-Studio ist zuvor ab 18 Uhr Osman Okkans Dokumentarfilm Mordakte Hrant Dink zu sehen. Zum Abschlus des Abends musiziert die Band Collectif Medz Bazar. Gestaltet wird „Hrant Dink (Ge)denken“ von Hakan Savas Mican, Arsinée Khanjian und Tuncay Kulaoglu.

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