Kultur: Willkommen in der Bananenrepublik
Familienaufstellung auf Türkisch: „Love it or leave it!“ am Maxim Gorki Theater.
Es gibt diesen berüchtigten Wahlwerbespot der Erdogan-Partei AKP von 2014. Darin vergeht sich irgendein finsterer Staatsfeind an einer riesigen türkischen Flagge, die von ihrem Mast zu Boden sinkt und dabei unheilvolle Schatten über das ganze Land wirft. Woraufhin zu auftrumpfender Musik zehntausende wehrhafter Bürgerinnen und Bürger alles stehen und liegen lassen, mal eben den Bosporus durchschwimmen und eine ameisenmäßige Menschenpyramide bilden, um die geliebte Fahne wieder aufzurichten. Ein besonders heldenhafter Patriot stürzt sich dafür auch gerne in Tod. Ganz im Sinne des entschlossenen Landesvaters Erdogan. Es ist natürlich leicht, sich darüber lustig zu machen. Der Kitsch, das Pathos, das Säbelrasseln. Ist in der Türkei nicht auch die Marschmusik erfunden worden? Klar wählen die sich einen Autokraten mit Schnauzbart zum Führer.
Schon schwerer ist es, die komplexe Gemüts- und Gemengelage des Landes zu verstehen, von den geografischen und historischen Spannungsfeldern der Türkei ganz zu schweigen. Da genügen ein paar Schlagworte mit innen- und außenpolitischem Sprengpotenzial: PKK und Gülen-Sekte, Islamismus und Kemalismus, Syrien-Nachbarschaft und Europa-Hassliebe. Entsprechend war eins schon klar, als das Gorki Theater einen Abend über den gefürchteten Vater der türkischen Nation ankündigte: mit simplem Erdogan-Bashing à la Böhmermann wird es hier nicht getan sein. Bloß keine Steilvorlagen für die Populistenfraktion liefern, die im Antlitz des Popanzes vom Bosporus ihre Orientalismus-Klischees bestätigt sieht. Das Projekt „Love it or leave it!“, entwickelt von Nurkan Erpulat und Tuncay Kulaoglu mit Texten von Emre Akal, löst so gesehen von Beginn an die Erwartungen ein.
Abwarten und Teetrinken
Wie weit die Verweigerung geht, das überrascht dann aber doch. Nach endlos langem Vorspiel aus wortlosem Abwarten und Teetrinken sowie Klaviervariation des Requiems „The End“ von den Doors hält Taner Sahintürk einen Eröffnungsmonolog aus Türkisch und Fantasiekauderwelsch, der einem Wortbrocken hinwirft wie „Ayran“, „Kebab“, „Putin“, „Trump“. So nach dem Motto: ihr glaubt, verstanden zu haben? Pustekuchen.
Was folgt, ist eine Art zweistündige Familienaufstellung, die auf nicht weniger zielt, als eine Psychopathologie der gegenwärtigen Türkei zu entwerfen. In einer Art Wohnzimmer mit gähnendem Höllenloch neben dem Bett und Atatürk-Portrait an der Wand (Bühne: Alissa Kolbusch) setzen Regisseur Erpulat und sein Dramaturg Kuaoglu einen schlaglichtartigen Szenenreigen in Gang, der zwischen allegorischer Schärfe und melancholischem Achselzucken schwankt. Schauspielerin Lea Draeger, ganz in Rot als Miss Türkei, trägt zur Versinnbildlichung der Lage des Landes eine Schlinge um den Hals. Von der Decke baumelt dazu ein Kronleuchter aus Südfrüchten. Willkommen in der Bananenrepublik.
Allerdings sind längst nicht alle Bilder so leicht lesbar. Über manche Türkei-spezifischen klärt ein dem Programm beigelegtes Glossar auf. Stichwort Schuhschachtel zum Beispiel: dazu muss man über einen Korruptionsskandal Bescheid wissen, in dessen Zuge bei hochrangigen Politikern und Geschäftsleuten Millionen an Bargeld in Schuhkartons gefunden wurden. Auch Erdogan war verwickelt. Es existiert der Mitschnitt eines Telefongesprächs, in dem Tayyip seinem Sohn Bilal erläutert, wie er die Kohle am besten beseitigt. Andere Szenen des Stücks, in dessen Zentrum der Besuch eines Imams bei einer Familie steht, bleiben dagegen völlig rätselhaft. Den größten Publikums-Appeal hat noch die Wutrede von Mehmet Yilmaz, die auf dem Gedicht „Türkiye“ von Kücuk Iskender basiert und deftig abrechnet mit dem zerrissenen Land.
„Love it or leave it?“ Für letztere Option entscheiden sich ja immer mehr Intellektuelle und Journalisten. Can Dündar etwa, wegen angeblicher Spionage verfolgter Chefredakteur der oppositionellen Zeitung „Cumhuriyet“, hat in Berlin Exil gefunden und schreibt auch als Kolumnist fürs Gorki Theater.
Ja, die Zeiten werden finsterer. Die teils zähen zweieinhalb Stunden im Gorki erhellen sie einem nicht wirklich. Vielleicht war die Absicht aber auch gerade, die Ratlosigkeit zu reproduzieren, die nicht nur unter Erdogan herrscht.
wieder am 18. und 23. November
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