Art Week: Comeback der Performance- und Aktionskunst: Die Künstler führen wieder Regie
Das digital überreizte Publikum kann wieder durchatmen. Eine Kunstform der Sechziger hat plötzlich wieder Konjunktur: die Performance. Auch auf der Berlin Art Week ist Selbermachen und Mitmachen gefragt.
Vielleicht kann Hamish Fulton tatsächlich 800 Freiwillige dafür gewinnen, am Sonntag auf der gesperrten Straße des 17. Juni in Gedenken an den Mauerfall in zwei Reihen knapp aneinander vorbei zu laufen, von Ost nach West und umgekehrt. Dann sorgt der britische Künstler nicht nur für einen Höhepunkt der Berlin Art Week, sondern erstellt auch einen sichtbaren Beweis dafür, dass Performance- und Aktionskunst wieder viele Interessenten hat. Der 68-Jährige würde den Zeitgeist ebenso treffen, wenn sein Public Walk mangels Teilnehmern ausfallen sollte. Erst 300 Anmeldungen zählte die Akademie der Künste fünf Tage vor dem Termin.
Fultons Aktion bringt das Dilemma der Berlin Art Week auf den Punkt: Performances allerorten, auf welchen Programmzettel man auch schaut – und sie kosten Zeit. Statt überall einmal rasch hinein zu schauen, müssen sich die Besucher entscheiden, bei welchen Ereignissen sie verweilen wollen. Ob in der Verkaufsausstellung ABC, wo 40 zusätzliche Aufführungen die Hallen füllen, ob in Projekträumen, der Privatsammlung Me Collectors Room oder am Sonntag auf der Messe Berliner Liste: überall Aktion – mal tänzerisch, mal therapeutisch, mal musikalisch, mal malerisch. „Wir sind von zu vielen digital reproduzierten Bildern umgeben“, glaubt „Liste“-Leiter Peter Funken. „Deshalb suchen wir das unmittelbare Erlebnis.“
Erleben Sie sich selbst
Wenn Funken Recht hat, dann ähnelt die Kunst darin der Musik: Je einfacher Reproduktionen digital zugänglich werden, desto lieber besucht das Publikum eine Aufführung. Dabei geht es nicht nur darum, einen Künstler zu erleben, sondern auch sich selbst. „Vergewisserung der eigenen Person“, heißt das in Texten über Hamish Fultons Werk, das viele öffentliche Spaziergänge umfasst. Deren bedächtiges Tempo erinnert an fernöstliche Meditationen: Wer gehend seine Schritte zählt, kommt im Hier und Jetzt an. Genau dies scheint sich das digital überreizte Publikum zu wünschen. Jedenfalls standen 2010 in New York und diesen Sommer in London die Besucher Schlange für eine Begegnung mit Marina Abramovic, während der die Künstlerin jedem Einzelnen entweder still gegenüber saß oder ihn behutsam durch den Raum geleitete.
In Berlin stellt gerade die Bildhauerin Iris Kettner aus. Ihre Werkschau im Haus am Lützowplatz spannt den Bogen von ihren älteren, lebensnahen Figuren zu neueren amorpheren Gestalten und funktioniert auch ohne Performance prächtig. Dennoch ließ es sich die Künstlerin nicht nehmen, während der Eröffnung aufzutreten: in einer dunklen Ganzkörperhülle, geknüpft aus Fahrradschläuchen und dicken Streifen aus Alttextilien. Wie eine finstere Figur aus der alemannischen Fastnacht stand die Künstlerin schweigend neben den Rednern, ein Alien, dessen Gesicht und Augen nicht zu erkennen waren, das aber durch die Maschen im Gewirk die Gäste gleichsam im Visier hatte. „Es geht mir darum, die Blickrichtung zu verändern: Die Kunst guckt zurück. Sie ist nicht länger Objekt“, erklärt Kettner.
Die Performance gibt Künstlern ihren Handlungsspielraum zurück
Auch darin liegt der aktuelle Reiz der Performance. Sie gibt Künstlern einen Handlungsspielraum zurück – nach all den Jahren, in denen der globalisierte Betrieb mit immer neuen Internetplattformen, Auktionen und Biennalen aus Kunstwerken schnell abbild- und umschlagbare Handelsobjekte gemacht hat. Bei der Performance dagegen führen die Künstler Regie. Tino Sehgal, der in der Akademie-Ausstellung „Schwindel der Wirklichkeit“ seine Performance „This is Exchange“ von so genannten Interpreten aufführen lässt, erlaubt weder Abbildungen noch Katalogtexte. Die Arbeit, obwohl käuflich, soll immateriell bleiben.
Die neue Stärke von Performance und „Live Art“ (Sehgal) verdankt sich nicht zuletzt der Annäherung von Kunst und Theater, wie sie in Berlin Hebbel am Ufer, Maxim Gorki Theater und Volksbühne erfolgreich erprobt haben, letztere in den Neunzigern mit Christoph Schlingensief als prominentestem Pionier. Pausiert hat die Performance indes nie, es schien nur so während der bildlastigen Nuller Jahre im Westen. Doch überall dort, wo Ateliers rar und die Kunstmärkte weniger wichtig sind, wo Krisen, Kriege und Zensur schnelle, wendige Kunst nötig machen, spielen Performance und Aktion eine große Rolle. Davon zeugt auch das von Okwui Enwezor kuratierte Festival „Meeting Points“ 2010/11 in Amman, Beirut, Brüssel und Berlin. Viele Teilnehmer thematisierten die arabischen Aufstände in Lecture-Performances: vortragsähnlichen Arbeiten, die von Worten und Körpersprache leben, allenfalls mit so viel Bildmaterial ausgestattet, wie auf einen Memory-Stick passt.
Art-Week-Kurator Lukas Töpfer führt Einzelgespräche
Die materialreduzierte Handlung zeigt jetzt auch wieder im Westen Präsenz, etwa auf der Art Week. So hat Kurator Lukas Töpfer in den Kunst-Werken einen kleinen Raum eingerichtet, nur mit Tisch, Stuhl und einem gerahmten Comic. Hier will er 31 angemeldete Besucher empfangen und mit ihnen je eine knappe Stunde lang Einzelgespräche führen. Das obskure Thema der intimen Sitzungen: der Rückzug einer Gruppe „marxistischer Modernisten“ aus der Öffentlichkeit 1918, nach der russischen Oktoberrevolution. Womöglich zeigt der Kurator seinen Gästen sogar Kunst. Verknappung der Bilder, Anmeldung und ein handverlesenes Publikum in einem öffentlichen Haus: So ähnelt inzwischen sogar eine Ausstellung einer Performance.
Hamish Fulton: Straße des 17. Juni, So, 21. 9., 14 Uhr, Anmeldung: www.adk.de. Iris Kettner: Haus am Lützowplatz, Lützowplatz 9, bis 2. 11.; Di bis So 11-18 Uhr. Lukas Töpfer, Kunst-Werke: Anmeldung: lt[at]kw-berlin.de
Mehr zur Berlin Art Week: www.tagesspiegel.de/berlin art week