King Crimson live in Berlin: Die komplizierten Liebesgesänge der Sternentierchen
Grandios: King Crimson gaben ihre erstes Deutschlandkonzert seit über zehn Jahren im Berliner Admiralspalast. Heute folgt die Zugabe.
Viele Künstler haben in den letzten Monaten dem ersten großen Pop-Toten des Jahres 2016 Tribut gezollt und bei Konzerten einen Song von David Bowie zum Besten gegeben. Aber kaum jemand kann dies mit größerer Berechtigung tun als King Crimson, die am Sonntagabend nach gut zweieinhalb Stunden im ausverkauften Admiralspalast als erste Zugabe „Heroes“ intonieren: Robert Fripp, Mastermind und einzige personelle Konstante der 1968 gegründeten Band, steuerte 1977 im Berliner Hansa-Studio seine charakteristischen Gitarrenschleifen zu Bowies bekanntestem Song bei.
Natürlich wird die – bis auf den etwas dünnbrüstigen Gesang von Jakko Jakszyk – dem Original ebenbürtige „Heroes“-Version bejubelt, doch eigentlich ist der Song für King-Crimson-Verhältnisse unterkomplex. Denn es gibt keine Band, die weiter über die kartografierten Gewässer des Rock in die offene See des Unbekannten hinausgeschwommen ist als King Crimson. Einsortiert wurden sie unter Progressive Rock, doch mit dem LP-Seiten-langen Gedudel von Yes oder Genesis hatten sie wenig zu tun. Auch Crimson-Stücke sprengen oft das Standard-Rockformat, aber was bei ihnen in zehn Minuten passiert, würde bei anderen Acts für eine ganze Karriere reichen.
Zum Beispiel „Starless“ vom 1974er Album „Red“: Aus einer schokoladenschmelzzarten Kammerpop-Weise entwächst allmählich ein horrorfilmreifer Freejazzrock-Lärm, der nach gut zehn Minuten in einer melodiösen Supernova explodiert. Ein Song wie ein ganzes Leben, für dessen konzertante Umsetzung man echte Cracks braucht.
Drei Schlagzeuger haben King Crimson dabei
Robert Fripp hat für die aktuelle Auflage der immer wieder auf Eis gelegten Band aus dem Vollen geschöpft. Beim ersten Deutschlandkonzert seit über zehn Jahren bevölkern gleich drei Schlagzeuger, Gavin Harrison, Pat Masteletto und der erst vor einigen Wochen hinzugekommene Jeremy Stacey, den Bühnenvordergrund und spielen sich die rhythmischen Bälle zu. Dahinter, auf Podesten von links nach rechts aufgereiht: der mal lyrisch, mal ekstatisch Querflöte und diverse Saxofonformate bearbeitende Mel Collins, der in den Siebzigern schon mal bei King Crimson war und seither für Dutzende Bands gespielt hat.
Neben ihm der unvergleichliche Tony Levin, ein kahlköpfiger Erzengel der Coolness, der diverse E-Bässe und den Gitarren-Bass-Hybrid Chapman Stick mit elastischen Fingern muskulös bezupft. Dann Jakko Jakszyk, der nicht nur seine mit dem Motiv des ersten Crimson-Albums verzierte Gitarre bedient, sondern auch vor der Herausforderung steht, die verschiedenen Sänger der Bandhistorie zu vertreten. Das gelingt ihm erstaunlich gut, auch wenn er weder die Unschuld des jungen Greg Lake bei „Epitaph“ aus dem Jahr 1969 noch den rustikalen Schmirgelblues von John Wetton bei „Easy Money“ vom 73er Album „Larks‘ Tongues In Aspic“ exakt trifft.
Robert Fripp strahlt die Expressivität eines Musikautomaten aus
Ganz rechts schließlich Robert Fripp. Die Bühnenperformance des 70-Jährigen wenig charismatisch zu nennen, wäre eine starke Untertreibung. Beinahe reglos auf seinem Höckerchen sitzend, strahlt er die Expressivität eines jener Musikautomaten aus, die im 18. Jahrhundert an europäischen Höfen die Zeitgenossen verblüfften. Selbst während der an den Anfang der beiden 80-minütigen Sets gestellten Tripel-Trommel-Workouts, bei denen die restlichen Bandmitglieder unwillkürlich ins Mitwippen verfallen, verharrt Fripp ungerührt und wirkt, als würde er im Kopf mathematische Gleichungen lösen. Aus denen man dann wieder King-Crimson-Songs machen könnte, denn in ihrer arithmetischen Komplexität haben Stücke wie „Cirkus“, „Fracture“ oder „Red“ strukturell mehr mit Bachs Fugen gemein als mit dem Gros zeitgenössischer Rockmusik.
Die meisten Stücke stammen aus der Frühphase der Band
Aber Fripp ist viel mehr als der Hauptkomponist dieser Stücke und der (unsichtbare) Dirigent dieses Orchesters, er ist eben auch ein unglaublicher Musiker. Er entlockt seiner E-Gitarre labyrinthische Solofiguren, schraffiert schachbrettartige Noise-Cluster aufs Griffbrett und verschleift melodische Tonfolgen zu seinen unnachahmlichen Frippertronics, die wie die Liebesgesänge durchs Weltall schwebender Sternentiere klingen.
Natürlich stellt sich die Frage, ob es, selbst für diese abartig komplizierte, alle möglichen Stile von Math Rock bis Progressive Metal teils um Jahrzehnte vorwegnehmende Musik (die Mehrzahl der Stücke stammt aus der ersten King-Crimson-Phase von 1969 bis 1974) drei Drummer braucht oder ob es nicht doch eher eine Dicke-Hosen-Geste ist. Die Antwort fällt gespalten aus: Tatsächlich gebraucht wird das prügelnde Trio selten. Selbst bei den schwierigsten Passagen von neurotisch vertrackten Stücken wie „The ConstrucKtion of Light“ oder „Red“ würden sicher auch zwei Trommler genügen. Und bei den Frühwerken „Epitaph“ und „The Court Of The Crimson King“ vom epochalen Debütalbum möchte man wenigstens einem der Schlagwerker die Griffel festbinden, denn dieser hochmelodiöse, noch im Canterbury Folk verwurzelte Kammer-Progrock verträgt zusätzliches Gedengel und Gezischel wenig.
Zum Finale „21st Century Schizoid Man“
Andererseits ist die schiere Wucht dieser drei unermüdlich pumpenden Herzkammern nicht wegzudiskutieren und wichtig für die Erdung der Irrsinnssoli speziell von Fripp und Collins. Und, okay, das Bühnenbild sieht einfach geil aus, weil jeder Schlagzeuger seine ganz eigenen Bewegungsabläufe hat, die sich zu einer natürlichen Gesamtchoreografie fügen.
Ganz am Ende dieses denkwürdigen Auftritts muss natürlich noch der Song kommen, mit dem King Crimson vor 47 Jahren die Rockhistorie in ein Vorher und Nachher geteilt haben: „21st Century Schizoid Man“ ist immer noch ein Meilenstein, von anderen Bands ehrerbietig gecovert, von Kanye West gesampelt, aber nur echt in genau dieser hochseilartistischen Stop-and-Go-Dramaturgie, mit Fripps Schrapnellgitarre, Jakszyks originalgetreuem Röchelgesang und einem krassen Schlagzeugsolo von Gavin Harrison als Bonus. Die Fans, etwa zu 90 Prozent männlich, reißt es von den Sitzen, und das vor dem Konzert verkündete Fotografierverbot ist in dem Moment aufgehoben, in dem auch die Band ihrerseits Fotos des tosend jubelnden Publikums macht.
Nochmal heute um 19.30 Uhr im Admiralspalast (ausverkauft).
Jörg Wunder
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