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Hoffnung in der Hiphop-Krise: Kanye West: Das letzte Biest am Himmel

Duckmäuser und Großmäuler: Kanye West beschert dem siechenden US-Hiphop ein opulentes Meisterwerk.

Der Zustand des Patienten ist besorgniserregend. Hiphop hat seine Herrschaft über die US-Charts eingebüßt und verkümmert zur Nischenmusik. Abgesehen von Eminem, der von seinem aktuellen Werk „Recovery“ drei Millionen Stück abgesetzt hat, befinden sich die Verkaufszahlen im Sinkflug. Denn im Hiphop trifft die durch Downloads veränderte Konsumentenmentalität auf eine von der Rezession der US-Wirtschaft besonders betroffene Hörerschaft. Ein Szenario, das existenzbedrohende Züge annimmt.

Natürlich wird weiterhin Hiphop veröffentlicht. Manchmal sogar so geballt wie in den letzten zwei Wochen, in denen mit Nelly, Lil Wayne, Cee-Lo Green, Kid Cudi und Kanye West gleich fünf Hoffnungsträger neue Alben herausbrachten. Doch weniges bringt das Elend des zeitgenössischen Hiphops so auf den Punkt wie Nellys neue CD. Dem Südstaaten- Rapper, der vor zehn Jahren mit seinem Debüt einen Zehn-Millionen-Seller vorlegte, scheint das Herz in die Hose gerutscht zu sein. Eine duckmäuserischere Platte als „5.0“ (Universal) hat man lange nicht gehört. Neben Autotune-Missbrauch und einer Ranschmeiße an den Eurodance-Trend hat Nelly das scheußlichste Schweinerock-Gitarrensolo in petto, das je außerhalb einer Fernfahrerkaschemme zu hören war.

Symptome der Krise hört man auch bei „I Am Not a Human Being“ (Universal), dem achten Album von Lil Wayne. Dessen „Tha Carter III“ war die bestverkaufte US-Platte 2008, doch davon ist er nun Welten entfernt. Die Verlorenheit des Coverfotos, auf dem Wayne mit Spiegelsonnenbrille im fahlgrünen Nirgendwo steht, korrespondiert auf recht interessante Weise mit den kaputten Beats und stotternden Raps eines verblüffend defensiven Comebackversuchs. Vielleicht kann die Verzagtheit seiner Platte damit entschuldigt werden, dass er bis vor kurzem noch im Knast saß. Mit „I’m Single“ ist ihm immerhin noch einer der bedrückendsten Hiphop- Tracks der letzten Jahre gelungen.

Man kann auch anders mit der Hiphop-Dämmerung umgehen. Nämlich, indem man einfach keinen Hiphop mehr macht. Cee-Lo Green hat sich noch nie um Reinheitsgebote geschert. Dass in ihm ein guter Soulsänger steckt, wusste man seit dem Gnarls-Barkley-Hit „Crazy“. Somit ist sein drittes Soloalbum „The Lady Killer“ (Warner) keine große Überraschung: eine astreine Soulplatte, wobei Soul hier nur als Sammelbegriff für Black Music vom DooWop der späten Fünfziger bis zum Michael-Jackson-Zitat dient. Das alles ist handwerklich perfekt, im topaktuellen Retrosound, der schon für Amy Winehouse oder Aloe Blacc der Schlüssel zum Erfolg wurde. Und doch eine kleine Enttäuschung, weil einer der innovativsten Stilisten sich auf die sichere Bank setzt.

Kid Cudis zweites Album „Man on the Moon II: The Legend of Mr. Rager“ (Universal) markiert einen Reifungsprozess: Der Protegé von Kanye West setzt seine exquisiten Gäste klug ein, liefert sich ein tolles Duett mit Cee-Lo zum verschleppten Galeerensklaven-Beat oder bindet die Electronica-Nudel St. Vincent kongenial in den Gummitwist-Hüpfer „Maniac“ ein. Cudi sprüht auf 17 großartigen Tracks vor Ideen und schafft es sogar, den Crossover zum Weezer-Collegerock („Erase me“) okay klingen zu lassen. „Mr. Rager“ wäre ein würdiger Kandidat für das beste Hiphop-Album 2010.

Doch da ist noch was. Ein Werk, das nicht nur den gesamten Hiphop-Jahrgang in den Schatten stellt. Sondern schlicht die Platte des Jahres ist. Wer hätte ein Monstrum wie das adäquat betitelte „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ (Universal) abliefern können? Nur das größte und streitbarste aller Rap-Großmäuler: Kanye West, der Akademikersprössling aus Atlanta, der durch sein arrogantes Auftreten auch außerhalb der Szene immer wieder für Ärger und Aufsehen gesorgt hat.

Ein opulenteres Hiphop-Album hat es noch nicht gegeben. Selbst das flamboyante Out-Kast-Hauptwerk „Speakerboxxx / The Love Below“ ist Simon & Garfunkel dagegen. Allein die Gästeliste erinnert an die goldene Hiphop-Ära, als die Credits eines Albums so lang wie bei einem Hollywood-Blockbuster waren: Es gibt – unter anderem – Auftritte von Rihanna, Jay-Z, John Legend, Alicia Keys, La Roux, Fergie und dem halben Wu-Tang Clan. Nichts davon ist bloßes Namedropping, all diese Stimmen sind sinnstiftend eingeflochten. Und wer könnte die Dekadenz eines perlenden Pianos besser beisteuern als der leibhaftige Elton John?

Es ist schwer, einzelne der 13 komplexen, hoch verdichteten Tracks hervorzuheben. Sicherlich ist „Power“, die fulminante Abrechnung mit dem Scheitern der Obama Nation, genial um ein Sample von King Crimsons Progrock-Epos „21st Century Schizoid Man“ drapiert. Oder das neunminütige, dramatische „Runaway“, einem Seelenstriptease, in dem West seine Bindungsunfähigkeit mit dem Hypermaterialismus des Hiphop überblendet. Größter Geniestreich ist aber das finale „Lost in the World“: Das wehmütige Gewinsel der Folk-Eremiten Bon Iver wird per Autotune-Effekt aufgefächert, ehe es in einen galoppierenden Dancefloor-Stampfer übergeht, der in ein Sample von Gil Scott-Herons wütender „Who will survive in America“-Brandrede aus dem Jahr 1970 mündet. Es gab schon viele Versuche, den urbanen Hiphop mit Formen der ländlichen Musiktradition zu kreuzen, aber erst hier entsteht aus Waldschrat-Americana, Armani-Disco und Polit-Soul etwas völlig Neues.

Das ist natürlich alles viel zu viel. Und es gibt Momente, die nicht zwingend sind. Doch es war nicht Makellosigkeit, die „Sgt. Pepper’s“ oder „OK Computer“ zu Meilensteinen der Popmusik machte. Sondern ihr visionärer Wagemut. „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ verwandelt diesen zu einem Manifest des Größenwahns in einer immer kleiner werdenden Welt. Für diese Hybris sollte man vor Kanye West niederknien.

In dem bizarren Film, der der Deluxe- Version des Albums beiliegt, versucht West, ein (weibliches) Alien ans Erdendasein zu gewöhnen, wobei er am misstrauischen Naturell seiner Mitmenschen scheitert – eine Metapher auf den mentalen Zustand Amerikas. Denkbar, dass Kanye West selbst das Alien ist. Der Mann, der vom Himmel fiel. Und uns die grandioseste Musik des Universums mitgebracht hat.

Jörg Wunder

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