30 Jahre Deutsche Einheit: Die Kluft zwischen Ost und West scheint größer denn je
Die Historikerin Petra Weber sucht in „Getrennt und doch vereint“ das Verbindende zwischen den beiden Deutschlands, zwischen Anziehung und Abstoßung.
Bis 1949, also bis zur Gründung zweier deutscher Staaten, gab es Deutschland – und dann wieder seit der Wiedervereinigung, dem 3. Oktober 1990. Auf diesen knappen, nur halb ironischen Nenner hat der Publizist Peter Bender einmal die deutsche Nachkriegsgeschichte gebracht und daran die hintersinnige Frage geknüpft: Sollte es dazwischen Deutschland nicht gegeben haben? Gespielte Naivität oder Provokation?
Denn „dazwischen“ gab es ja sogar zwei Deutschlands, eine beispiellose Zerreißprobe für Gesellschaft, Staat und das nationale Bewusstsein, die bald ein halbes Jahrhundert andauerte. Die Frage muss also heißen: Als was gab es Deutschland in dieser Zeit, als Bundesrepublik und DDR seine Stelle besetzt hielten? Als Fiktion, wider alle realen Aussichten? Als hyperkluge Rechtskonstruktion? Als Kampffeld des Kalten Kriegs? Jedenfalls als horrende Merkwürdigkeit: zwei Staaten, die für sich ein Deutschland in Anspruch nahmen, das sie nicht mehr waren, ohne das aber beide nicht gewesen wären, was sie wurden.
Das Thema gewinnt um so mehr an Relevanz, als die deutsche Vereinigung die deutsche Teilung zwar beendete, sie als historisches Phänomen aber rapide an den Rand des öffentlichen Bewusstseins geschoben hat. Die Antwort auf die Frage, was dieses Halbjahrhundert für die deutsche Geschichte bedeutet, erhält dadurch einen fast – wenn das Wort gestattet ist – patriotischen Rang.
Denn die gereizten Untertöne der Debatte über den Zustand der Vereinigung sprechen dafür, dass die gefühlte Einheit auch damit zu tun hat, ob es gelingt, die Geschichte der beiden Teile als eine gemeinsame Sache zu begreifen. Weshalb sonst wird so anhaltend trotzig darüber geklagt, dass die Deutschen, die in der DDR gelebt haben, sich in unserer Geschichte nicht wiederfänden?
Eine asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte
Es ist fast so etwas wie die Probe darauf, dass Versuche, eine gemeinsame Geschichte der Deutschen in der Nachkriegszeit zu schreiben, zumeist ehrenvoll gescheitert sind. So beispielsweise in der vielleicht bedeutendsten Nachkriegsgeschichte, die Peter Graf Kielmansegg unter dem Titel „Nach der Katastrophe“ geschrieben hat, und in der die DDR als missratener Appendix der gelungenen Geschichte der Bundesrepublik vorkommt.
Selbst in Peter Benders Essay mit dem schönen Titel „Deutschlands Wiederkehr“, der eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte verspricht, spielt die DDR trotz abwägender Instrumentierung die zweite Geige. Und dem Begriff einer „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“, mit dem Christoph Kleßmann lange vor der Wiedervereinigung dem Thema zu Leibe rückte, haftet doch etwas von einer Zangengeburt an.
[Alle wichtigen Updates des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]
Die Nachkriegsgeschichte, die Petra Weber unter dem Titel „Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945 - 1989/90“ geschrieben hat, nimmt dieses Problem als Herausforderung an. Sie will dem Doppelcharakter der deutschen Nachkriegsgeschichte gerecht werden, indem sie diese als „Parallel-, Kontrast-, Vergleichs-, Perzeptions- und Beziehungsgeschichte“ der beiden Teilstaaten erzählt.
Sie will den jeweiligen Entwicklungen der ost-westlichen Geschichte nachgehen und zugleich ausloten, was die Deutschen trotz zunehmender Entfremdung verband. So soll mehr „Licht auf die Komplexität, die Ambivalenzen und Widersprüche“ der jüngeren deutschen Vergangenheit gelenkt werden. Die ehrgeizige Absicht hat ihren Preis, ihr Buch umfasst bald 1300 Seiten.
Was Honecker und die anderen DDR-Größen dachten
Zunächst aber demonstriert es, wie fleißig die Mühlen der Zeitgeschichte gemahlen haben, vor allem seit 1989, und gerade in Bezug auf die DDR. Betrachtet man das Literaturverzeichnis, so drängt sich der Eindruck auf, als sei sie inzwischen wissenschaftlich bis in den letzten Winkel ausgekehrt. Selbst die Geschichte der SED-Leitung Brandenburg hat da ihren Autor gefunden, die Erfahrungsgeschichte Leipziger Metallarbeiter und das „Schwarzwohnen“, offenbar ein Terminus technicus für Hausbesetzung.
Nun erfährt man aus den geöffneten Archiven auch, was die Honeckers, Mittags und anderen DDR-Größen vom aktuellen Geschehen hielten. Doch im üppigen Anmerkungsteil stößt man auch auf einen „Vermerk des Referenten Bahr betr. Deutschlandpolitik von 22.Februar 1967“.
Ein bisschen klingt der Titel „Getrennt und doch vereint“, als stamme er aus dem Wortschatz der politischen Bildung, und jedenfalls scheint er als Befund zu statuieren, was das Problem der Nachkriegsgeschichte ausmacht. Liest man ihn hingegen als programmatischen Orientierungshinweis, so eröffnet er den Fragehorizont, der sich durch das Buch zieht: Wie stark griff die Teilung im Laufe der Jahre in das Land ein, das ja in der sagenhaften Stunde Null fraglos noch ein Land war, trotz Niederlage und Besatzung? Und: Wie viel Einheit erhielt sich in der Phase der Teilung, die zeitweise doch als sein unabwendbares Schicksal erschien?
Leben mit der Teilung
Denn deutsche Geschichte in dieser Zeitspanne: Das ist, alles in allem genommen, die Geschichte des Lebens mit der Teilung. Petra Weber versteht sie als einen Vorgang, der tief in alle Lebensbereiche eingreift, wobei sie den Wendungen, Brüchen und Verwerfungen, die dieses Halbjahrhundert ausfüllen, beharrlich nachgeht – nicht ganz frei von der Neigung, alles erzählen zu wollen. Zur historischen Größe wird für sie die Hochphase des Kalten Krieges, die sie auf die Jahre von 1948 bis 1961 datiert.
Daran gemessen erscheinen die unmittelbaren Nachkriegsjahre mehr Vor- denn Frühgeschichte der deutschen Trennung. Denn anders als es die Schilder an der Autobahn verkünden, beginnt sie ja nicht schon 1945: Da befand sich Deutschland auf dem tiefsten Punkt, war aber als historisches Gebilde noch ungeteilt.
Es gehört zur Geschichte der Teilung, dass die Möglichkeit der Deutschen, sich ihr entgegenzustemmen, gering waren. Mehr noch: Sie befanden sich in einem weltpolitisch diktierten Dilemma, in dem sich Wiederaufbau und fortschreitender Teilungsprozess überlagerten – bis hin zu der von Weber notierten fatalen Konsequenz, dass der erstaunliche Wiederaufstieg der Deutschen von der West-Ost-Konfrontation profitierte, sie aber „dafür den Preis der Trennung entrichteten“.
Andererseits blieben die Verhältnisse länger im Fluss, als es im Rückblick erscheint, war der Auf- und Ausbau der Zweistaatlichkeit nur „eine Seite des vielfältigen, auf unterschiedlichen Ebenen stattfindenden deutsch-deutschen Mit- und Gegeneinander dieser Jahre“. Mit einem schönen Zitat von Theodor Heuss über den „unzerreißbaren inneren Zusammenhang“ der Deutschen reflektiert die Autorin auf einer anderen Ebene der deutschen Wirklichkeit. Und tatsächlich sind die Deutschlandpläne und Deutsche-an-einen-Tisch-Appelle, die damals ihr hohe Zeit hatten, so etwas wie der Subtext der fortschreitenden Teilung.
Das Ziel der Einheit verblasst
Diese Zeitspanne, die „langen fünfziger Jahre“, sind für Weber die „entscheidende Scharnierzeit“ der Nachkriegsgeschichte; merkwürdigerweise nur für Westdeutschland, wo sich das Gleiche doch leicht auch für den Osten belegen ließe. Mit einem „Gezeitenwechsel unter dem Vorzeichen der Detente“ statuiert sie für die sechziger und siebziger Jahre den Paradigmenwechsel, der die Deutschlandpolitik auf eine neue Ebene hebt.
Im Kontext des Wandels der internationalen Szene erweist sich als Grundmuster die Spannung zwischen der immer größer werdenden Verselbstständigung der beiden Staaten und ihrer gleichwohl immer wieder aufscheinenden Nähe – das „Getrennt-und-doch-Vereint“ als heimliches Format von vier Jahrzehnten.
Dass insofern die Einheit als Zielvorstellung immer mehr verblasste, die beiden Deutschlands sich gleichwohl aufeinander bezogen, sich nahe blieben und im Laufe der Trennung sogar wieder näher zu rücken schienen, obwohl sie sich tatsächlich massiv voneinander entfremdeten: Das ist vielleicht das Paradoxon, das den Gang der deutsch-deutschen Geschichte möglich machte. Wirkte da die gemeinsame Geschichte? Das Empfinden, noch immer eine Nation zu sein?
Tauziehen um Grenzen und Transitpauschalen
Das ist ein weites Feld, und Petra Weber hält sich davon fern. Schon kurz nach der Hälfte des Buches, Weber ist gerade in den siebziger Jahren angekommen, fällt der Satz, der als Schlüssel für den Ausgang der deutsch-deutschen Geschichte gelten kann: Die DDR habe sich zu keiner Zeit „essentiell aus der Sogwirkung der westdeutschen Vergleichsgesellschaft lösen" können (Hans Günter Hockerts).
In Bann schlägt nicht zuletzt das Finale mit der „unverhofften deutschen Einheit“ als erlösendem Höhepunkt. Weil dieses unglaubliche Ereignis sich noch im Erinnerungshorizont befindet? Weil keiner es geahnt hat, bis es dann eintrat? Nicht ohne Bewegung, immer wieder verblüfft, gelegentlich auch nicht ohne Amüsement begegnet man den Jahren und Ereignissen, die man kennt – dem Antichambrieren der bundesdeutschen Polit-Elite bei Honecker, dem zur Routine gewordene deutschlandpolitischen Pragmatismus im Tauziehen um Grenzmarkierungen und Transitpauschalen, der endlosen Kette der Abrüstungskonferenzen, der Woge der Friedensbewegung und dem bang bestaunten Aufbegehren der Dissidenten.
Ein historisches Abenteuer voller Wendungen
Dabei sind die Zeichen kommender Veränderungen im Rückblick so unübersehbar, dass man sich heute wundern muss, dass wir den Mauerfall als Wunder erlebt haben. Am Ende stand das Paradox, dass die Einheit, von der viele glaubten, dass sie längst der Teilung zum Opfer gefallen war, zum Weg aus dem Umbruch wurde, den die friedliche Revolution angestoßen hatte.
Ist das nun die Nachkriegsgeschichte, in der sich alle Deutschen, auch die ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürger, wiedererkennen? Man kann Petra Webers eminent fleißigem Opus wohl konzedieren, auf dem richtigen Weg zu sein. Sie hält sich an die damaligen Ereignisse, stellt Zusammenhänge her, berichtet und debattiert, und dennoch läuft sie trotz des eisern durchgehaltenen deutsch-deutschen Ansatzes kaum Gefahr, Unvergleichbares zu vergleichen.
Vor allem aber ist ihr Buch eine Fundgrube für ein beispielloses Kapitel von Geschichte und Gesellschaft, ein historisches Abenteuer voller Wendungen und Windungen, kleiner und großer Tragödien, voller Entwicklungen, die die Deutschen bis in ihre Substanz hinein verändert haben. Auch wenn sich ihr Agieren oft im Kleinklein deutsch-deutscher Querelen zu erschöpfen schien. Das ist eine Erbschaft, die anzunehmen und mit ihr umzugehen die Deutschen im 30. Jahr ihrer Wiedervereinigung allen Grund haben.