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Kritisierte die „Selbstbeweihräucherung“ der „Sieger“. Christa Wolf am 4.11. 1989 auf dem Alexanderplatz.
© dpa-Picture-Alliance/AFP

30 Jahre Mauerfall: Wie die Literatur auf die Wende reagierte

Die Wendeliteratur ergründete Klischees über „Besserwessis“ und „Jammerossis“. In den meisten Fällen blieb die Fremdheit.

Der Autor ist Literaturwissenschaftler und hat im Wehrhahn Verlag soeben eine „Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989-2000“ veröffentlicht.

Goethe wusste es schon 1814: 30 Jahre nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze und 29 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur BRD gestaltet sich das Zusammenwachsen dessen, was zusammengehören soll, komplizierter, als zunächst angenommen. Wie heißt es in seiner neunten „Zahmen Xenie“: „Verfluchtes Volk, kaum bist du frei. So brichst du dich in dir selbst entzwei. War nicht der Not, des Glücks genug? Deutsch oder teutsch, du wirst nicht klug.“

Auf das Glück vom Ende der SED-Diktatur, auf die Freude über die Herstellung der Einheit Deutschlands folgt eine Entzweiung der Deutschen, die bis heute anhält. Unterschiedliche Lebensverhältnisse, Mentalitätsmuster, Wahlergebnisse, Konsumgewohnheiten prägen 2019 den ostwestdeutschen Alltag. Die Hoffnungen auf die Herstellung einer „inneren Einheit“ scheinen der Skepsis gewichen, wonach sich eine strukturelle Fremdheit zwischen dem östlichen und dem westlichen Landesteil verfestigt.

Diese Fremdheit war bereits in den neunziger Jahren das prägende Thema der schönen Literatur. Für die deutsche Literatur dieser Dekade, die sich mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und ihren dramatischen Folgen auseinandersetzt, hat sich der Begriff Wendeliteratur durchgesetzt.

Diese Texte konstatieren und reflektieren nicht nur die sich schnell etablierenden Stereotype zwischen Ost und West, sondern sie praktizieren auch selbst die Fremdheitsmuster. Damit wird die Wendeliteratur sowohl zur Beobachterin als auch zur Akteurin der deutsch-deutschen Zwietracht.

Nach Maueröffnung und Einheit machten die Deutschen und mit ihnen ihre Schriftstellerinnen und Schriftsteller eine Erfahrung, die Christian Morgenstern 1906 so formuliert hat: „Einander kennenlernen heißt lernen, wie fremd man einander ist.“

Tatsächlich lässt sich die sozialpsychologische Ursache der innerdeutschen Fremdheit als Kombination zweier Faktoren beschreiben: Zum einen wird die gegenseitige Ähnlichkeitserwartung der Ost- und Westdeutschen kollektiv enttäuscht. Zum anderen sind die Ostdeutschen aufgrund der ungleich verteilten Definitionsmacht in der neuen Bundesrepublik tendenziell als ‚Fremde' und ‚Laien' gegenüber den Westdeutschen als ‚Einheimische' und ‚Experten' benachteiligt.

Dieses Gefühl der Benachteiligung und Übervorteilung wird von nahezu allen Autoren der kritisch-loyalen DDR-Literatur formuliert. Ostdeutschland und sich selbst als Verlierer betrachtend, beschreiben die Reformsozialisten den Transformationsprozess als kapitalistischen Eroberungsfeldzug: Elf Tage nach der Grenzöffnung schreibt Christoph Hein an den Rowohlt Verlag: „Wenn wir scheitern, frisst uns McDonalds.“

Im Dezember 1989 bescheinigt Stefan Heym seinen Mitbürgern in der DDR, dass sie von „westlichen Krämern“ hinters Licht geführt worden seien: „eine Horde von Wütigen, die Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef“.

Volker Braun bezeichnet Transformation und Wiedervereinigung 1991 in einem Interview als „Einmarsch des Kapitalismus in eine herrenlose Gegend“. Im September 1991 erscheinen Christa Wolf die westdeutschen Eindringlinge als die „neuen Weltherren“, die „die Rechtsmaßstäbe der Sieger“ anlegen, um ihr „Bedürfnis nach Rache und nach Selbstbeweihräucherung“ zu befriedigen.

Ähnlichkeitserwartungen wurden enttäuscht

Auf ganz andere Art verstärken aus der DDR ausgereiste Autoren die Fremdheit zwischen Ost und West. Wo die Reformsozialisten die DDR-Bürger dafür verachten, dass sie 1989/90 kein erneutes sozialistisches Experiment mittragen, da gießen die in den Westen ausgereisten Autoren Kübel voll Hohn und Spott über die verschreckten und desorientierten Ostdeutschen aus, deren Klagen in Richtung Westen sie als angemaßte Opferrolle, als ungerechtfertigtes Selbstmitleid und als billige Larmoyanz interpretieren.

Monika Maron: „Die neue ostdeutsche Einheitsfront, die von der PDS bis zu den Neonazis reicht, verrührt die DDR-Geschichte zu einem einzigen Opferbrei, die eigene Vergangenheit wird unter dem neuen Feindbild begraben, ein neues Wir ist geboren, ‚wir aus dem Osten'; endlich dürfen alle Opfer sein, Opfer des Westens.“

Auch Bernd Wagner und Wolf Biermann übertragen ihre radikale Kritik am ostdeutschen Realsozialismus nach dem Ende der DDR auf die „gelernten Untertanen“ (Biermann), ihr Zorn auf die DDR mutiert zum Abscheu gegen die ehemaligen DDR-Bürger: „Dummheit, Korrumpierbarkeit in jeder Richtung, Faulheit, Feigheit nach oben und Brutalität nach unten“ (Wagner).

Die „kranken Ostdeutschen“ erscheinen als „Volk wie ein Haufen verhaltensgestörter Heimkinder, die sich wundern, daß es plötzlich keine geladenen Stacheldrahtzäune mehr gibt, aber auch nicht den täglichen Schweinefraß aus der Großküche“ (Biermann).

Annäherungsversuche zwischen Ost und West

Es gibt nur zwei Autoren, die in der ersten Phase der Wendeliteratur, der Politisierung, die gegenseitigen Fremdheitsmuster reflektieren, um zu einer innerdeutschen Annäherung und Verständigung zu gelangen. Es sind der Ostdeutsche Günter de Bruyn und der Westdeutsche Peter Schneider, die bereits 1990/91 „wechselseitige Projektionen“ (Schneider) und „Vorstellungsschablonen“ (de Bruyn) beschreiben, die bis heute aktuell geblieben sind.

So redet laut de Bruyn das „DDR-Klischee eines Westbürgers" „laut und sehr ungezwungen“, „spricht, wenn er nicht von Italien- und Spanienreisen erzählt, von Leistung und Geld“ und kehrt dabei immer „für seinen Gesprächspartner, ob er will oder nicht, den Überlegenen heraus“.

Die Kulturtechniken des ‚Besserwessis' sind in einer gesellschaftlichen Umgebung entstanden, die den Ostdeutschen nach erstem Augenschein als wenig erstrebenswert bis verwerflich erscheint: „Sie stören sich an der Kälte der Konkurrenzgesellschaft, an der Glitzerfassade, hinter der nichts steckt, an der allgemeinen Rücksichtslosigkeit und am Materialismus.“

Dieses östliche Stereotyp von der Bundesrepublik besagt weiterhin, dass „es im Westen ‚kalt' sei, keine ‚echte Freundschaft' gebe, keine ‚Gemütlichkeit'". Dem steht das westliche Klischee des ‚Jammerossis' gegenüber, dessen „Anspruchsverhalten“ noch durch die begleitende „Vorwurfshaltung“ verschlimmert werde (Schneider).

Der große Wenderoman wurde bereits veröffentlicht

Dass diese Fremdheitsmuster zwischen Ost und West auch 2019 wirkmächtig geblieben sind, wird klar, wenn man ein Tagesspiegel-Interview mit der Leipziger Bestsellerautorin Daniela Krien liest. Sie beklagt, dass ihr erster Besuch im Westen „etwas Demütigendes“ gehabt habe, auch weil sie als „undankbar und faul“ beschimpft worden ist.

Der entscheidende Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen ist für sie „der Umgang mit Geld“, der Westen ist ihr nach wie vor „auch politisch fremd“, dagegen sei „im Osten etwas erhalten geblieben, eine Identität, die der Westen längst abgelegt“ habe.

Die Wendeliteratur hat überdies eine große Leistung vollbracht, die bislang unbemerkt geblieben ist: Der vom Feuilleton vehement geforderte große Wenderoman wurde bereits veröffentlicht. Ingo Schulzes „Simple Storys“ (1998), Jan Grohs „Colón“ (2001) und Bernd Wagners „Paradies“ (1997) können nach Art einer Trilogie als dieser große Wenderoman gelten.

Schulze zeigt kunstvoll und komplex die innerdeutsche Fremdheit als Einbruch des unbekannten Westlichen in die ostdeutsche Provinz. Komplementär verdeutlicht Jan Groh die Fremdheit, indem ein ‚entfremdeter' Westdeutscher im Herbst 1989 die ‚authentische' Lebenswelt junger DDR-Oppositioneller als unbekanntes Draußen entdeckt. Dadurch entsteht die gelungene Schilderung der DDR kurz vor Maueröffnung, gerade weil sie aus einer uneingeweihten, fremden Perspektive beschrieben wird.

Schließlich gelingt Bernd Wagner die überzeugendste Darstellung der Ost-West-Unterschiede, indem er eine närrische Ostdeutsche auf eine skurrile Expedition in den Westen schickt, der nun seinerseits als unbekanntes Draußen erscheint.

Vielleicht lassen sich die Klagen über den vermeintlich fehlenden großen Wenderoman und die tatsächliche Fremdheit zwischen Ost und West mit einem schlichten Wort des „Eisernen Reichskanzlers“ relativieren. Mit einem Blick auf das Nationalgefühl seiner Landsleute erklärte Bismarck lakonisch: „Der Deutsche hat an und für sich eine starke Neigung zur Unzufriedenheit.“

Arne Born

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