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"Schluss mit der DDR!" - Das stand vor 30 Jahren auf keinem der Plakate.
© picture alliance / dpa

30 Jahre Mauerfall: Die Einheit als doppelte Demütigung

Kein dritter Weg: Im Westen gab's eine übermächtige Bundesrepublik, im Osten ein Volk, das Polit-Experimente ablehnte. Das konnte nicht gutgehen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Malte Lehming

Das ist in etwa die Zeitrechnung eines Durchschnittswessis: Es war einmal eine DDR. Die Machthaber gewährten weder Reise- noch Meinungsfreiheit, Oppositionelle wurden eingesperrt, Wahlen waren eine Farce. Dann kam in der UdSSR Michail Gorbatschow ans Ruder, in Leipziger Kirchen formierten sich mutige Bürgerrechtler, David Hasselhoff sang „Looking for Freedom“, und am 4. November 1989 versammelten sich auf dem Berliner Alexanderplatz Hunderttausende, um ihrer Wut auf die verknöcherten Strukturen Luft zu machen. Fünf Tage später fiel die Mauer.

Wie die Geschichte weitergeht, weiß der Durchschnittswessi auch: Die Ossis wollten erst die D-Mark, dann den Beitritt, schließlich kam’s zur Wiedervereinigung.

Was ausgeblendet wird in dieser Erzählung, ist die sehnsuchtsvolle Stimmung im Herbst 1989. Die meisten Redner auf dem Alexanderplatz wollten eine bessere DDR, nicht deren Ende. Friedrich Schorlemmer flehte die Flüchtlinge an, im Land zu bleiben. Markus Wolf brach eine Lanze für die Staatssicherheit. Christa Wolf träumte von einem Sozialismus, vor dem keiner mehr wegläuft. Ähnlich klangen Gregor Gysi, Stefan Heym und Günter Schabowski. Noch Ende November sprachen sich 86 Prozent der DDR-Bürger für den „Weg eines besseren, reformierten Sozialismus“ aus.

"Sozialistische, antifaschistische und humanistische Alternative“

Symptomatisch ist der Aufruf „Für unser Land“. Der war Mitte November von Kirchenvertretern, Bürgerrechtlern und SED-Reformern erarbeitet worden, bis zum 19. Januar 1990 hatten ihn fast 1,2 Millionen DDR-Bürger unterschrieben. Darin wurde inständig für eine „sozialistische, antifaschistische und humanistische Alternative“ zur Bundesrepublik geworben. Gewarnt wurde vor einem „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte“. Auch das „Neue Forum“, die größte Oppositionsgruppe im Land, unterstützte den Aufruf.

Es kam bekanntlich anders. Die durch Massenauswanderung, Währungsunion und Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm beschleunigte revolutionäre Dynamik ließ eine schrittweise Annäherung beider Systeme nicht zu. Staatssozialismus und Marktwirtschaft erwiesen sich als inkompatibel. Damit zerstob der Traum von einem selbstbestimmten, selbst erkämpften und in Freiheit erwählten Leben. Den Beitritt der neuen Bundesländer nach Artikel 23 des Grundgesetzes empfanden viele als bürokratischen Akt. Das Eigene war gezwungen worden, restlos im Fremden aufzugehen.

Manch tragenden Kräfte der friedlichen Revolution – Bürgerrechtler, Theologen, Künstler, Reformer – erlebten damals eine doppelte Demütigung. Erstens im Verhältnis zur übermächtigen Bundesrepublik, die die Bedingungen der Einheit diktieren konnte. Zweitens im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung, die auf Polit-Experimente zunehmend ablehnend reagierte. Spätestens im Frühjahr 1990 wollte eine Mehrheit der DDR-Bevölkerung die Wiedervereinigung.

Besserwessi, arroganter Wessis, profitsüchtiger Wessi

Diese doppelte Demütigung wirkt in doppelter Hinsicht nach. Sie wurde, erstens, durch Schuldzuweisungen an die Adresse des Westens kompensiert, der bei der Gestaltung der Einheit alle Fäden in der Hand hielt und deshalb bequem für alle Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht werden konnte. Plus Besserwessi, arroganter Wessis, profitsüchtiger Wessi, West-Importe, Treuhand.

Sie drückt sich, zweitens, in einem teilweise extremen Identitätskult aus, der sich anfangs in Wahlerfolgen der Linken, aktuell in Wahlerfolgen der AfD wiederspiegelt. Es ist beileibe kein Zufall, dass sich die Rechtspopulisten im Osten Deutschlands rhetorisch an vielen Slogans der Wendezeit orientieren und diese nachahmen.

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