Deichkind-Konzert in Berlin: Die Hüpfburg kippt um
Effekthascherei oder tiefsinnige Agitation? Deichkind haben in der ausverkauften Max-Schmeling-Halle Krawall inszeniert.
Trampolin, Schlauchboot, Fahne. Zur Seite gekippte Riesenhüpfburg. Sack mit Federn drin, der bei nächstbester Gelegenheit über den Köpfen des Publikums ausgeschüttet wird. Ein vier Meter hohes Bierfass, ein Riesenhirn, sechs zappelnde Bandmitglieder. Zwei silberne Heliumballons mit dem Schriftzug "Leider geil". Dies ist, wohlgemerkt, bloß die Bühnenausstattung für einen einzigen Song.
Wenn es stimmt, was die Musiker der Gruppe Deichkind über sich behaupten, dass sie nämlich eigentlich Forscher sind, die Grenzen ausloten wollen, dann muss es sich bei der Konzertkulisse von Dienstagabend in der Max-Schmeling-Halle wohl um eine komplizierte Versuchsanordnung handeln. Denkbare Fragestellung: Wie viel Radau braucht es, um beim Publikum epileptische Anfälle auszulösen?
Der Sound bleibt eher dürftig. Ein unambitioniertes Elektropunk-Dance-Hip-Hop-Gemisch, die Beats sollen Druck machen, mehr nicht. Was aber fesselt, sind das Gerümpel und das Gewusel auf der Bühne. Die bretternden Seniorenroller. Die rotierenden Regenschirme. Die Fantasiekostüme und Masken. Es ist pure Effekthascherei. These: Claus Peymann gefällt das nicht.
Gesellschaftskritik zwischen Klamauk
Erstaunlicherweise gelingt dieser Band zwischen all dem Klamauk bissige Gesellschaftskritik. Sie verhandelt die Zumutungen der Leistungsgesellschaft („Denken Sie groß“), des Markenkonsums („Powered by Emotion“), der Arbeitswelt („Bück Dich hoch“), des digitalen Lebens („Like mich am Arsch“). Zur Mitgrölnummer mit der Zeile „Hoch die internationale Getränkequalität!“ wird die „Refugees welcome“-Fahne geschwenkt. Wenn die vehementeste, dezidiert linke Agitation im Pop heute von Männern Ende 30 mit blinkenden Kunstoffpyramiden auf dem Kopf ausgeht, was sagt das über die Verfasstheit der Branche aus? Könnte man drüber nachdenken, aber dann jagen schon die Figuren des Uralt-Computerspiels Pacman über die Bühne, und bald zückt Ferris MC das rote Laserschwert, das sonst Darth Vader zum Töten dient. Deichkind jongliert mit popkulturellen Referenzen, Mash-Ups, Memes. Ein Deichkind-Konzert liest sich wie eine außer Kontrolle geratene Twitter-Timeline.
Deichkind und die choreographierte Anarchie
Wer glaubt, das Gehampel sei dilettantisch, der irrt. Das Chaos ist einstudiert, erdacht vom Hamburger Konzeptkünstler Henning Besser alias DJ Phono, der sagt, niemand steige freiwillig mit einem Müllsack bekleidet auf die Bühne, es sei aber nötig. Wenn bei Deichkind eine Hüpfburg hochkant liegt, dann ist sie eben nicht zufällig umgekippt, dann sollte das so sein. Auf die drehbaren Dekosäulen, „Omnipods“ genannt, hat Henning Besser inzwischen Patent angemeldet. Die Professionalität dieser Rasselbande und die Strukturiertheit ihrer Show zeigt sich auch daran, dass es nicht langweilig wird. Im hektischen Deichkind-Kosmos gibt es keine Redundanzen, keine Verschnaufpausen, kaum Vorhersehbarkeiten. Jede Verrücktheit wird nur genau so lange zelebriert, bis sich das Publikum an sie gewöhnt hat. Wo andere Spektakelmusiker wie Bonaparte, Prinz Pi oder Die Antwoord Wiederholung in Kauf nehmen, stolpert bei Deichkind noch schnell ein mannshohes Plastikzebra über die Bühne. Mit dieser Strategie und Henning Bessers Ideenreichtum hat sich die Band in den vergangenen zehn Jahren eine gewaltige Fangemeinde erspielt. Die meisten Konzerte der aktuellen Tour waren ausverkauft, zum Abschluss treten Deichkind am Freitag vor 15 000 Menschen in Hamburg auf. Wer dabei sein will, muss auf dem Schwarzmarkt 200 Euro zahlen. Erstaunlich allerdings, dass die Band inzwischen sogar CDs in nennenswerter Stückzahl verkauft (die aktuelle mit dem Titel „Niveau Weshalb Warum“ schaffte es Anfang des Jahres an die Spitze der deutschen Charts). Denn im Wohnzimmer ist diese Musik kein Genuss. Deichkindsche Rauschzustände lassen sich nur im Kollektiv erleben. Wie konsequent die Gruppe live ihrer Maxime „Erlaubt ist, was aufputscht“ folgt, erkennt man in der Max-Schmeling-Halle schon an der Wahl der Vorband: Es gibt keine. Wäre doch möglich, dass die sonst maue Stimmung verbreitet. Stattdessen werden Videoclips gezeigt, die garantiert die Menge anheizen. Zur Rebellenhymne „Killing In The Name Of“ von Rage against the machine tobt der Innenraum wie anderswo zur Zugabe. Das ist choreografierte Anarchie. Funktioniert hinreißend. Am Ende des Abends steht kein Fuß mehr still. Vielleicht ist dies ja der eigentliche Forschungsansatz der sechs kostümierten Gonzo-Wissenschaftler: Was ist zu unternehmen, um ein großstädtisches, im Alltag mehrheitlich unprolliges Publikum innerhalb kurzer Zeit maximal aufzuwiegeln? Sollte es auf diese Frage überhaupt eine finale Antwort geben, Deichkind sind mächtig nah dran.
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