Stöß und Renner diskutieren Strategien für Berliner Kulturpolitik: Die Hosen müssen endlich runter
Jan Stöß und Tim Renner sprachen über ihre Strategien für die Berliner Kulturpolitik. Dabei hatte der Kulturstaatssekretär vor allem für die etablierten Institutionen eine klare Botschaft: mehr Transparenz.
Das Grips-Podewil ist bis auf die Treppen voll besetzt. „Aufruf zum Weiterdenken: Strategien der Berliner Kulturpolitik“ heißt die Veranstaltung der SPD, die ihren Massen-Appeal weniger dem knalligen Titel verdankt. Sondern vielmehr der Tatsache, dass mit Bürgermeister- und Kultursenator-Kandidat Jan Stöß sowie Kulturstaatssekretär Tim Renner ein potenzielles Cheftandem des Hauptstadt-Betriebs auftritt. Die neuen Wowereit-Schmitz. Vor allem die freie Szene verspricht sich von den beiden Gehör für ihre zuletzt baden gegangenen Forderungen. Stichwort: City Tax. Am Ende dürfen die immer noch hoffen. Mehr aber auch nicht.
Stöß gebührt ja erst mal Respekt dafür, dass er seinen Kopf erklärtermaßen für die Kunst hinzuhalten bereit ist. Was von ihm als Kultursenator zu erwarten wäre, bleibt allerdings auch nach der Eröffnungsrede ziemlich vage. Der Weg an die Spitze führt für ihn durch die Niederungen, so viel wird klar. Noch bevor er über die Suche nach einem neuen Standort für die Zentral- und Landesbibliothek, den möglichen Mindestlohn für Kreative und das gebotene Umdenken in der Liegenschaftspolitik spricht, bricht der Mann eine Lanze für die bezirkliche Kulturarbeit. Die stöhnt unter einem Joch namens Kosten- und Leistungsrechnung. Eine tatsächlich irre Regelung, die Galerien, Bibliotheken oder Theater nach Anzahl ihrer Besucher bewertet, statt nach Qualität. „Das Ballhaus Naunynstraße ist so nicht zu führen“, ruft Stöß. Er wirkt dabei wie ein Politiker, der sich mit Gummistiefeln im Überschwemmungsgebiet fotografieren lässt, um zu signalisieren, dass er sich auch die Hände schmutzig macht, wenn’s drauf ankommt. Bei Renner wird es schon konkreter.
Tim Renner - vom Kumpeltyp zum Umkrempler
Der von Wowereit ernannte Staatssekretär mausert sich langsam vom Kumpeltyp zum Umkrempler. Auch wenn er klug genug ist, nicht mit Revoluzzer-Gestus aufzutreten. Zum Beispiel führt Renner en passant einen neuen Kulturbegriff in die Debatte ein. Die Unterscheidung zwischen „U“ und „E“. Was nicht etwa für Unterhaltung und Ernst steht. Sondern für Underground und Exzellenz. Der Underground soll jener Berlin-typische Wildwuchsbereich sein, der sich dem Zugriff der Politik entzieht wie der renitente Teenie der elterlichen Kontrolle. Und praktischerweise nicht mal Taschengeld verlangt. „Wir können nur Flächen schaffen, wo er sich entwickelt“, so Tim Renner. Unter Exzellenz hingegen fallen alle etablierten Institutionen, die schon wegen ihres Hauptstadt-Standorts „in der Champions League spielen“. Was in den Augen des Kulturstaatssekretärs die Verpflichtung zur „Transparenz“ mit sich bringt. „Die Hosen gegenüber dem Konsumenten runterlassen“, lautet die Forderung genauer.
Nicht nur kann sich Renner vorstellen, auch die großen Sprechtheater und Opern evaluieren zu lassen. Was eine sehr spannende Diskussion über die Besetzung der damit zu beauftragenden Jury mit sich bringen dürfte. Vor allem aber sollen die Exzellenz-Kandidaten ihre Vorstellungen auch per Live-Stream übertragen. Freilich ohne dafür Champions-League-mäßige Fernsehgelder zu bekommen. Sondern kostenlos. „Open Data für Kultur“ nennt Renner diese zweifelhafte Idee. Als der Kunstdruck erfunden wurde, so seine Zerstreuung etwaiger Befürchtungen, sei auch ein Zittern durch die Museumswelt gegangen. „Aber nie war der Louvre voller als danach“. Ob sich dieses Beispiel tatsächlich auf den Live-Stream einer Peymann-Premiere übertragen lässt?
Die Gratismentalität hat Konjunktur
Die Gratismentalität scheint jedenfalls Konjunktur zu haben. Weswegen Leonie Baumann – Rektorin der Kunsthochschule Weißensee und Sprecherin des Rates für die Künste – während der anschließenden Podiumsdiskussion noch eins draufsetzt und freien Eintritt zum Beispiel für alle Museen vorschlägt. Das würde auch den Touristen freuen. Das geht selbst Renner zu weit, der bei aller Liebe für innovatives Denken (auch Crowdfunding-Modelle für die Kultur seien denkbar) doch sieht, dass irgendwoher Geld kommen muss. Zumindest wenn seine Adresse an die freie Szene (bei der Renner finanziell „dringend Nachholbedarf“ sieht) nicht komplett heiße Luft bleiben soll.
Der Staatssekretär sympathisiert zwar mit der Idee der City Tax für die Kultur. Wie vor ihm schon Schmitz, ohne dass es was gebracht hätte. Renner ist aber auch zahlenversierter Realist, der die Begehrlichkeiten mit dem Hinweis dämpft, dass nach jüngsten Schätzungen die Einnahmen aus der Bettensteuer wohl um 10 Millionen geringer ausfallen als erwartet.
Es gibt zu tun
Egal, ob Stöß und Renner das künftige Chefduo der Kulturpolitik bilden oder zwei andere oder Neuwahlen zu einer anderen Konstellation führen: Es gibt zu tun. Das ist keine neue Erkenntnis. Wird einem aber mit Dringlichkeit ins Bewusstsein gerufen. Ein Standort für die Zentral- und Landesbibliothek muss gefunden werden. Sofern man sie nicht, wie Leonie Baumann, kurzerhand ins Humboldtforum packen will. Ein Konzept für die Mittelverteilung in der freien Szene muss her. Und vor allem sollte die Politik Mittel und Wege finden, trotz steigender Mieten für Künstler attraktiv zu bleiben. Dass die Entwicklung auf dem Immobilienmarkt sich nicht umkehren lässt, weiß auch Renner. Was bleibt, wenn die Stadt teurer wird? Seine Antwort: „Das Versprechen von Freiheit“.
Ob er damit den Underground meint? Das klingt nicht so, als sollte man sich darauf verlassen.