"Keiner findet sich schön" in der Volksbühne: Die hässliche, hässliche verkaufte Welt
Viel Schwermut, wenig Diskurs: „Keiner findet sich schön“ von René Pollesch ist eine echte Sensationsnovelle. Im Gegensatz zu seinen sonstigen Werken ist das Stück kitschig und ungewohnt unakademisch.
Der schnell- und vielschreibende Diskurspraktiker René Pollesch mag zwar gefühlte zehn Premieren pro Saison raushauen. Aber eigentlich schreibt er immer an demselben Stück: Diese Behauptung scheint mittlerweile Branchengesetz. Pollesch gucken heißt demnach, hochtourige Diskurscomedy abfeiern, die clever Mainstreamperspektiven aushebelt, Richard Sennett oder Jacques Lacan wie „Desperate Housewives“ klingen lässt und dabei selbst übliche Spielfilmlängen verdienstvoll unterbietet.
Innerhalb dieses Rahmens konnte man sich immer so einiges vorstellen. Einen Pollesch mit Überlänge etwa oder im äußersten Fantasienotfall sogar mal einen ohne Musik. Bei einer früheren Zäsur im Pollesch-Oeuvre war es schließlich schon mal zu einem nicht mehr für möglich gehaltenen Paradigmenwechsel gekommen. Mit dem Eintritt des Schauspielers Fabian Hinrichs in den Werkkosmos wurde das bis dato gültige Hochgeschwindigkeitssprechpingpong von einem vergleichsweise pastoral entschleunigten Qualitätssingsang abgelöst. Eines allerdings blieb trotz dieses spektakulären Um-Brandings der Marke Pollesch absolut undenkbar: ein Diskurs-Pollesch ganz ohne Diskurs.
Insofern darf der 75-Minüter „Keiner findet sich schön“ in der Berliner Volksbühne als absolute Sensationsnovelle gelten. Keine Donna Haraway, kein Jean-Luc Nancy, kein Slavoj Žižek nirgends; jedenfalls nicht an der Textoberfläche. Stattdessen: Weltschmerz. Liebeskummer. Bekennende Tagebuchtraurigkeit. So unbemäntelt, unakademisch und mit jenem erhabenen Mangel an Diskursfitness geschlagen, wie sich dieser Zustand eben gemeinhin so geriert.
Hinter der Kitschsehnsuchtsfolie
„Es ist nicht kompliziert, es ist schrecklich!“, heißt es diesmal also beim Diskurspraktiker Pollesch. „Ich werde verrückt! Ich finde es so schwierig zu leben.“ Und: „Warum kommen wir nicht zusammen? Ich brauche jemanden! Ich brauche etwas Schönes in dieser hässlichen, hässlichen, hässlichen verkauften Welt.“
Gewissermaßen als Schmerzsubjekt des Abends spricht Fabian Hinrichs diesen Monolog vor dem mittlerweile Pollesch-obligatorischen Lamettavorhang des Volksbühnen-Chefausstatters Bert Neumann in einer trefflichen Balancelitanei irgendwo zwischen Schmerzempathie und gehobener Selbstdistanzierung: So ganz ist die Ironie Pollesch zum Glück nicht abhandengekommen. Der rot-weiß gestreifte Boden, auf dem Hinrichs gern mal bedächtig im Kreis läuft oder auch ansatzweise tänzelt, vervollkommnet sich später, wenn ein paar junge Bewegungskünstler/innen in blau-weißen Sternenkostümen auftreten, kurz zur US-Flagge: Der (US-)Traum vom Happy End in allen Lebenslagen als Kitschsehnsuchtsfolie des Abends.
Was hätte uns heute glücklich gemacht?
Von der „West Side Story“, von der sich Pollesch zentrale Teile des Soundtracks leiht, ist dem Kummerindividuum freilich nur der Gedanke an die bevorstehende singulär-trübe „Restzeitstory“ geblieben. Und wo im Text sonst der Pollesch-Diskurs verlinkt ist, findet sich ein vergleichsweise gegenständliches Möglichkeitsspiel: Was wäre gewesen, wenn ich an jenem entscheidenden Abend nicht zum Iggy-Pop-Konzert gegangen wäre (zumal „Stagediving“ sowieso voll yesterday ist) und stattdessen zu Hause die Türklingel gehört hätte, die – klar – justament von „dir“ betätigt worden wäre? Und wieso fächert sich eigentlich, so der Monolog weiter, dieser „Gesamtalbtraum“ namens Leben „aufgrund immer weiterer Kackentscheidungen“ zwischen Iggy Pop oder nicht Iggy Pop, Stagediving oder Nichtstagediving immer weiter auf? Obwohl wir, so lautet die Finaleinsicht, doch „ganz genau wissen, dass es nur den einen Strang gab, der uns hätte glücklich werden lassen können?“
Das Ende der Lovestory
Jeder, der sich mal in vergleichbarer Lage befunden hat – also: jeder – weiß natürlich, dass gegen diesen unerfreulich unterhaltungsarmen Zustand nichts einzuwenden geschweige denn zu machen ist. Man kann ihn nur aushalten. Zumal Pollesch die offensive Banalität des Status quo selbst direkt thematisiert: „Ich hab’ kein Leben, das zeigten doch die letzten 40 Minuten! Da ist kein Leben!“ Wenigstens ist da dieser überdimensionale Plastikbär, der sich immer weiter aufplustert, auf der Brust ein „No“ und auf dem Rücken ein „Fear“ trägt und von Fabian Hinrichs in würdiger Konsequenz mit dem Sinatra-V-Effekt „I did it your way“ angesungen wird. Dazu senkt sich der „first curtain“, der Vorhang, von dem später im Lied ja auch die Rede ist.
Und in der Volksbühne bricht ein Jubelbeifall los, dem mutmaßlich auch eine große endende Lovestory zugrunde liegt: der beginnende Trennungsschmerz des Stammpublikums von der Castorf-Volksbühne. Quasi der „first curtain“ zum langen Abschied bis 2017.
Wieder am heutigen Freitag sowie am1. und 8. Juli, 19.30 Uhr