Renner, Peymann, Dercon und der Streit ums Theater: Bühne ohne Volk
Der öffentliche Raum schrumpft – und damit die Bedeutung des Theaters. Die Leute hören stattdessen nur noch Musik. Ein Kommentar
Beim Kampf um die Berliner Volksbühne ging es um die Bühne, nicht um das Volk. Wer dort in Zukunft Theater macht, ist entschieden, der neue Chef heißt Chris Dercon. Doch was heute das Publikum sein kann, an der Volksbühne und im Theater überhaupt, ist unklarer denn je.
Seit jeher versammelt das Theater die Menschen, um ihre Themen zu verhandeln. Es lebt davon, dass es gemeinschaftliche Erfahrungen gibt, mit denen es spielen kann. Die gibt es heute immer weniger. Das liegt nicht an den Nackten, an Castorf, Peymann oder der Auswahl für das Theatertreffen, sondern am Wandel der Öffentlichkeit. Das Theater, sagt Dercon, ist „ein symbolischer und ein realer Ort zugleich“. Das war es. Heute ist es nur noch ein realer Ort.
Heute kann man leichter alleine leben als je zuvor
Schon vor fast 40 Jahren hat der Soziologe Richard Sennett vom „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ geschrieben, von der Erosion des öffentlichen Raumes und der sozialen Interaktion. Jene Orte, die traditionell Gemeinschaft schufen, haben diese Funktion verloren: Es gibt Schulen ohne Klopapier und Schulen, wo Fünfjährige Chinesisch lernen; die einen fahren Zug, die anderen billig mit Langstreckenbussen; und zur Bundeswehr geht nur noch, wer das will – oder nichts anderes hat. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft macht den Raum, den alle gemeinsam haben, kleiner. Selbst das Einkaufen findet nicht mehr auf dem Markt, sondern im Internet statt – ohne soziale Interaktion.
„Die Athener“, schreibt Christian Meier in seinem Buch über die Tragödie und das Politische, „waren weit mehr aufeinander als auf sich selbst angewiesen.“ Das ist heute anders. Heute kann man leichter alleine leben als je zuvor, und deshalb schrumpft die Sphäre des Öffentlichen. Das klassische Bild vom Theatrum mundi zielte noch auf die Verbindung von Ästhetik und sozialer Realität. Doch dieser Welt gehen die Schauspieler verloren. Die Gesellschaft ist kein Theater mehr, sie hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen; umgekehrt ersetzt das Theater die Gemeinschaft nicht mehr.
„Der Renner muss weg“
Dass es Tim Renner war, ein Musikproduzent und ehemaliger Chef des Labels Universal, der die Volksbühne neu ausgerichtet hat, ist kein Zufall. Renner hat Acts wie Tocotronic, Sportfreunde Stiller und Rammstein gefördert und ist ein Sieger des kulturellen Wandels. Sein Genre profitiert nicht nur von diesem Wandel, es treibt ihn voran: Der Erfolg von Unternehmen wie Apple wäre ohne den Markt für digitalisierte Musik nicht denkbar. Musik ist heute mobil und individualisierbar – beides sind Wettbewerbsvorteile gegenüber dem Theater. In Zeiten, in denen der Wille zur Gemeinschaft abnimmt, ist die Musik aus dem iPhone die zeitgemäße Kulturform. Dabei trifft man schließlich nicht immer andere.
„Der Renner muss weg“, forderte Claus Peymann. Als ob dann wieder alles wäre wie früher. Als ob das Theater ohne Renner, Dercon und die Jungs von Tocotronic wieder jene gesellschaftliche Bedeutung hätte, die es auch nach der Antike immer mal wieder gehabt hat. Das Theater ist im Einzelfall noch immer anregend und eindrucksvoll – es ist aber infolge des gesellschaftlichen Wandels im Kern nicht mehr politisch. Das Theater ist nicht mehr die Bühne, auf der die Dinge heute verhandelt werden. Diese zu finden, ist schwieriger als einen neuen Theaterdirektor.