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Zum letzten Mal ist Götz Friedrichs Kult-"Ring" aus den Achtzigern an der Deutschen Oper Berlin zu sehen.
© Bettina Stöß, Deutsche Oper Berlin

Retro-Trend in der Kultur: Die große Retrolution

Der Geist von gestern ist die Zukunft – Beobachtungen in der Oper, im Theater, auf der Documenta. Drei Kurzessays über Remakes und Retro-Trend in der Kulturszene.

Kleiner Ausflug in die Achtziger? Mit Motorradbräuten, Helden in Latzhosen, Lederschwulen, Atomangst und Kinderladen-Ambiente? Das Schöne beim Wiedersehen mit Götz Friedrichs „Ring“-Inszenierung von 1984/1985 besteht im doppelten Tunnelblick. Die mythische Zeitreise durch die Endzeit-Röhre auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin funktioniert auch als Retrotour zu den Entstehungsjahren jenes Zyklus’, den der damalige Generalintendant des Hauses an der Bismarckstraße exakt zwischen der seinerzeit gängigen neutralisierenden Wagner-Regie und Patrice Chéreaus hochpolitischem „Jahrhundert-Ring“ ansiedelte.

33 Jahre ist’s her. Der Abschied vom Achtziger-„Ring“ fällt nicht zufällig in eine Zeit, in der Retro und Remakes in der Opernwelt das neue heiße Ding sind. Was in Berlin über Ostern noch einmal auf dem Programm steht, bevor es endgültig in der Versenkung verschwindet, wird andernorts schon wieder aus der Versenkung geholt. Gerade haben die Salzburger Osterfestspiele Karajans 1967er „Walküre“ re-kreiert (Tsp. vom 10. April). In Lyon präsentierte Intendant Serge Dorny kürzlich gleich drei Remakes, Heiner Müllers Bayreuther „Tristan“ von 1993, Ruth Berghaus’ Dresdner „Elektra“ von 1986 und Klaus Michael Grübers Inszenierung der MonteverdiOper „Die Krönung der Poppea“ von 1999 für Aix-en-Provence.

Musealisiert sich nach dem Pop, der seit Jahren mit remasterten und wieder aufgeführten Kult-Alben reüssiert, während die Rockveteranen gleichzeitig auf never ending Tour unterwegs sind, nun auch das Musiktheater? Nach dem Motto, gegen Berghaus, Müller, Friedrich kommen junge Regisseure eh nicht mehr an? Nein, die Rede von der Krise des Regietheaters hat selbst einen Bart. Das Festival in Lyon trug den Titel „Mémoires“, Erinnerungen. Der Mensch ist vergesslich, Bühnenproduktionen kann man anders als Bücher, Songs und Filme nicht nachschlagen oder streamen. Und der alte Videomitschnitt ersetzt nicht das Live-Erlebnis. Also werden die Originalkulissen hervorgekramt oder nachgezimmert, Regiebücher und Dramaturgen-Notizen zu Rate gezogen, um die Regie-Klassiker von vor 20, 30, 50 Jahren wieder besichtigen zu können.

Haltet ein, es geht zu schnell!

Rettet das Schauspielhaus Köln, die Bonner Beethovenhalle! Wie in der Architektur erfährt die Nachkriegskultur eine neue Wertschätzung. Haltet ein, es geht alles zu schnell! Das Analoge gilt als hip in durchdigitalisierten Zeiten. Der Berliner Friedrich-„Ring“ ist gleichsam die knisternde Vinylplatte für den Opernfreund: Es wärmt einem das Herz, wenn beim Zwischenspiel hinter wallendem Seidenvorhang die Bühnenaufbauten rumpeln und knarzen, wenn statt Videoprojektionen die gute alte Lichtregie für Waldweben und Götterdämmerung sorgt. Und: So viel mystisches Dunkel hat man auf der Opernbühne schon lange nicht mehr gesehen. Ist’s im Musiktheater heller geworden?

Gleichzeitig kündet das Licht am Ende des Berliner Tunnels nicht von der Zukunft, sondern von einer fernen, anderen, eigenen Zeit jenseits kalendarischer Logik. Traumzeit. Kunstzeit. Der Tunnel des Bühnenbildners Peter Sykora hat etwas Mutterleibhaftiges (was gut zum Kindskopf Siegfried passt). Wer ins Theater, in die Oper geht, sucht auch verlorene Heimat. Es ist wie mit den frühen Science-Fiction-Filmen, denen die Berlinale dieses Jahr ihre Retrospektive widmete. Die Zukunft ist in die Jahre gekommen, das Fafner-Roboter-Monster in Friedrichs „Siegfried“ zischt und knallt wie die Androiden in „Star Wars“. Klassiker sein bedeutet aber auch, nicht alles altert, nicht alles verblasst mit der Zeit. Auch deshalb die neue Retro-Liebe: um zu sehen, was hält. Christiane Peitz

Star Wars und Richard Wagner. Der Riese Fafner in "Siegfried" als futuristischer Monster-Roboter.
Star Wars und Richard Wagner. Der Riese Fafner in "Siegfried" als futuristischer Monster-Roboter.
© Bettina Stöß, Deutsche Oper Berlin

Bühnenkunst lebt im Moment, sie schöpft aus der Faszination der Vergänglichkeit. Aufführungen verschwinden, werden abgesetzt, Neues muss her. Aber dass es immerzu das Neue geben könne, ist in der Kunst eine Illusion. Vor allem: in welchen Zeiträumen? Neu heißt oft – schnell wieder weg. Neu ist zu einem Marktwort geworden. Neu ist eine Pop-Kategorie. Was eigentlich spricht gegen Recycling in der Kunst?

Häufig hat Avantgarde die Geste des Wegwerfens, tritt aggressiv auf wie Dada, dessen 100. Geburtstag im vergangenen Jahr gefeiert wurde. Dada wurde nicht entsorgt, offenbar wird es noch gebraucht, es ist ungefähr so alt wie der Film und der Jazz. Wir erleben eine Zeit, die Tradition hoch schätzt und pflegt. Inzwischen steckt in der Kunst-Geschichte viel Revolution, heißt Tradition Umbruch. Und Neues fällt uns nicht ein.

Ein jüngeres Beispiel: 1976 wurde Robert Wilsons und Philipp Glass’ bahnbrechendes Musiktheateropus „Einstein on the Beach“ uraufgeführt. 2014 holte Wilson seinen Klassiker wieder zurück und siehe da: „Einstein“ begeisterte das Publikum, auch im von Innovation besessenen Berlin entfaltete das große Stück ungeheure Kraft. Nichts war daran alt. Wilson denkt wie ein bildender Künstler in Werkgruppen, in der Wiederholung steckt für ihn eine Kraft. An vielen Stellen zeigt sich: Retro steckt in den Genen der Bühnenkunst, schon deshalb, weil das Vergängliche immer wieder neu vergehen muss, für die nächste Generationen. Sind denn all die Performance-Geschichten, vom Maxim Gorki Theater zu den Münchner Kammerspielen und zum HAU, etwa nicht retro, da ja doch vieles auf die Performancekultur der Sechziger zurückgeht? Gefeierte Regisseure wie Michael Thalheimer, Frank Castorf oder René Pollesch inszenieren im Grunde auch immer das gleiche Stück, egal was draufsteht.

Nicht verlieren, was gut und einflussreich war

Die neue Volksbühne will demnächst signifikante historische Inszenierungen wiederherstellen, zum Beispiel von Beckett-Texten oder vielleicht auch Heiner Müllers „Hamletmaschine“ in der Regie von Robert Wilson. Dahinter steckt der Gedanke, das nicht zu verlieren, was gut und einflussreich war. Damit eröffnet sich die Chance, ein Stück Theater noch einmal zu betrachten oder, noch wichtiger, zum ersten Mal.

Im Tanz ist das Problem der Vergänglichkeit und des Verlusts am größten. Choreografien lassen sich schwer fixieren, der Körper muss im Wesentlichen die Gedächtnisleistung erbringen. Wäre es denn richtig gewesen, nach dem Tod von Pina Bausch das Wuppertaler Tanztheater aufzulösen? Tanz und Theater zeigen Selbstbewusstsein, wenn sie mit der Vergänglichkeit ringen. Wenn man weiß, woher man kommt, lässt sich ein blöder Konflikt wie die feindliche Gegenüberstellung von „klassisch“ und „modern“ beim Berliner Staatsballett vermeiden.

Menschen spielen etwas vor, andere schauen zu. Das haben sie getan, seit Griechen der ewigen Orgien müde wurden und die Idee hatten, sich an einem ruhigeren Ort zu versammeln und Geschichten von Göttern und Krieg zu hören und bei einem Wein darüber zu diskutieren. Menschen auf der Bühne, mit Sprache, Bewegung, Gesang – das ist auf jeden Fall schwer retro. Rüdiger Schaper

Eine Vergangenheitsseligkeit prägt die Documenta

Antikisch. Performance von Prinz Gholam auf der Agora in Athen.
Antikisch. Performance von Prinz Gholam auf der Agora in Athen.
© AFP / L. Gouliamaki

Die Moderne ist unsere Antike“, lautete der Titel von Roger Buergels Documenta vor zehn Jahren. In Athen, wo nun die 14. Ausgabe der Mega-Schau zeitgenössischer Kunst eröffnet wurde, kommt dem Besucher dieses Motto permanent in den Sinn. Sobald er draußen den Kopf hebt und freie Sicht auf die Akropolis erhascht oder wenn er drinnen in den Ausstellungsräumen den Blick in eine der vielen Vitrinen senkt, in denen sich Bücher, Fotos, Skizzen aus den 60er Jahren befinden.

Und manchmal treffen sich die beiden Welten, etwa wenn das Berliner Künstlerduo Prinz Gholam mit seiner Performance auf der Agora auf die Säulenformationen des Zeustempels reagiert oder wenn die indische Fotografin Gauri Gill im Epigraphischen Museum ihre Schwarz-Weiß-Aufnahmen von spontanen Wandzeichnungen und improvisierten Grabsteinen der Wanderarbeiter über die endlosen Regalreihen mit Funden antiker Inschriften platziert. Die Documenta 14 lädt zur Zeitreise ein, immer wieder geht es vor und zurück.

Eine Vergangenheitsseligkeit prägt diese neueste Documenta-Ausgabe, von der ein Drittel der Teilnehmer bereits verstorben ist, wie Statistiker herausgefunden haben. So viel Zukunft war nie aus dem Geist von gestern. Für den Ausstellungsbetrieb ist das kein neuer Trend. Performance, Minimal, knochentrockene Konzeptkunst, Polit-Art – all das ist schon lange auf die Biennalen zurückgekehrt. Bei einer Documenta aber erstaunt diese Rückwärtsgewandtheit, ist sie doch alle fünf Jahre das Barometer der aktuellen Kunst und Brüter künftiger Entwicklungen. Kurator Adam Szymczyk hat sich darüber hinaus vorgenommen, mit seiner Ausstellung Alternativen für eine bessere Welt aufzuzeigen, den Neoliberalismus zu bekämpfen.

Nicht Weckruf, sondern Erinnerung an heroische Zeiten

Genau deshalb wendet sich die Kunst den seligen Sechzigern zu, weil man damals noch hoffnungsfroh auf die Straße ging: raus aus den Museen, rein in die Politik. Bei der Documenta 14 aber wirkt dies merkwürdig nostalgisch, nicht als Weckruf, sondern als Erinnerung an heroische Zeiten. Der Besucher wandert von einer Zeitkapsel zur anderen. Ein dreieckiges Ausstellungskabinett, dessen Wände in den Farben der Flagge Biafras gehalten ist, präsentiert vergilbte Magazine und Bücher, die vom Hungerelend des Landes berichten. Im nächsten Geschoss des Athener Museums für zeitgenössische Kunst wird der polnischen Bildhauerin Alina Szapocznikow gedacht, deren gequälte Torsi ihre eigene Krankheit bezeugen. 1973 verstarb sie.

Das alles lässt die aktuelle Kunst ziemlich alt aussehen. Schläfrigkeit legt sich über viele Arbeiten, die doch eigentlich gerade Anschwung zum nächsten Aufbruch nehmen sollten. Ob Szymczyk das ahnte, als er die neueste Arbeit des Regisseurduos Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylors auswählte? „Somniloquies“ lautet der Titel ihres Films, der den in den 60ern gemachten Tonaufnahmen des wohl berühmtesten „Schlafredners“ Dion McGregor bestechende Bilder hinzufügte: Schwenks über unscharfe schlafende Leiber. Nicola Kuhn

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