Deniz Ohdes Roman "Streulicht": Die groben Unterschiede
Deniz Ohde erzählt in ihrem beeindruckenden Debütroman „Streulicht“ von einer bedrückenden Arbeiterkindheit und dem schweren Weg durch das deutsche Bildungssystem.
Wenn Lichtstrahlen durch Staubpartikel oder andere kleine Teilchen wie die viel diskutierten Aerosole gebrochen werden, entsteht ein diffuses Streulicht, das gerade in Dämmerstunden unheimlich wirkt.
Vor allem in der Nähe von Industrieanlagen ist das Phänomen zu beobachten, und mögen die Emissionen noch so umweltschädlich sein, sie erzeugen eine faszinierende Ästhetik des Gebrochenen.
In diesen Lichtverhältnissen spielt der Debütroman der 1988 in Frankfurt geborenen Schriftstellerin Deniz Ohde, wobei der klug gewählte Titel „Streulicht“ (Suhrkamp, Berlin 2020.285 S., 22 €.) auch als literarisches Programm zu verstehen ist. Die namenlose Erzählstimme streift im Nebel ihrer schmerzhaften Erinnerung umher, nähert sich großen und kleinen Bruchstellen ihrer Vergangenheit, sieht Zusammenhänge und entfernt sich wieder von allzu einfachen Erklärungen für ihren Lebensweg.
Kindheit und Jugend sind von Lieblosigkeiten und ästhetischen Zumutungen, von biografischer Zerrissenheit und dem Gefühl geprägt, bloß nicht aufzufallen.
Der Vater ein Mann der Arbeiterklasse, er „tunkte vierzig Jahre Aluminiumbleche in Laugen, vierzig Stunden die Woche“. Die Mutter aus der Türkei vor Armut und Eintönigkeit „in einem Fünfhundert-Seelen-Dorf an der Schwarzmeerküste“ geflohen. Die Familie lebt seit den achtziger Jahren in einer kleinen Wohnung, die unweit eines großen Industrieparks liegt, dessen Schornsteine Salzkristalle und andere chemische Nebenprodukte in den Himmel pusten. Wenn der Schmutz in der Luft überhandnimmt, „bekommen die Bewohner Gutscheine für die Autowäsche“.
Der Roman entzieht sich groben Interpretationsmustern
Vermutlich sind es Frankfurter Hoechst-Werke, die hier weniger Kulisse, sondern vielmehr Bestandteil einer bedrückenden Biografie sind. Wenn das Kind aus dem Fenster in die Ferne schaut, sieht es mächtige Schlote, nämlich die einer Müllverbrennungsanlage. Weht der Wind ungünstig, stinkt es in den Straßen scharf nach Abfall.
Im Haus wohnt nicht nur ein „Mann mit Vokuhila und zwei Hunden“, sondern auch der Großvater, der kaum etwas sieht, die Bombennächte im Weltkrieg aber immer noch zu durchleben scheint. Ohnehin leben alle mehr oder weniger für sich in dieser Familie, nicht einmal die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen. „Es gab nichts zu erleben bei mir zu Hause“, sagt die Erzählerin.
Im Hinterhof immerhin spielt sie mit Sophia, die ein paar Straßen entfernt im gutbürgerlichen Teil des Ortes aufwächst. Deniz Ohde erzählt von den feinen, aber auch sehr unfeinen Unterschieden, die beide Mädchen prägen, von der Selbstsicherheit Sophias und der tief sitzenden Verunsicherung der Freundin. Sie trägt zwei Namen, den türkischen verheimlicht sie. Dennoch wird sie von ihrem Umfeld, von den Nachbarn und Lehrern oft an die Herkunft ihrer Mutter erinnert, selbst wenn sie ihre Sprache nicht sprechen kann.
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Weil auch die Familie keinen Halt bietet, weil die Mutter im Märchenton über ihre Herkunft spricht, der Vater die Tochter aus falschem Klassenbewusstsein kleinredet, statt sie aufzubauen, weil die Probleme in der Schule daheim kein Thema sind, weil sich die Eltern nicht mit dem alltäglichen Rassismus und den Demütigungen beschäftigen wollen, die ein Arbeiterkind auf dem Gymnasium zu erleiden hat, weil die Mutter bald stirbt und der Vater sich daraufhin vollends zum Messie entwickelt, scheint der Weg der Erzählerin vorgezeichnet zu sein.
Doch es gibt einen Kipppunkt, als sie eine Abendschule besucht, eine Lehrerin ihr Mut macht, eine Klassenkameradin ihr fast schon beschwörend mitteilt, „du kannst noch alles retten“. Sie kämpft sich zum Abitur, wird Einserschülerin, möchte studieren. Die Freundin aus Kindertagen aber ist immer noch argwöhnisch: „Sophia sagte, ich solle mir gut überlegen, ob die Uni wirklich das Richtige für mich sei.“ Der Respektlosigkeit wird die Erzählerin bald mit Ironie begegnen. „Ich stehe ja am Rand der Gesellschaft“, sagt sie dann und kann sogar darüber lachen.
Es gehört zu den Eigenarten zeitgenössischer Literaturkritik, Prosa vor allem auf die politische Botschaft abzuklopfen, und gewiss lässt sich dieser Roman identitätspolitisch einordnen. Doch eine solche Lesart wäre in diesem Fall ein großes Missverständnis. Im Grunde entzieht sich „Streulicht“ diesen groben Interpretationsmustern.
Fragil-schön sind die Sätze, in denen die Entwicklung gezeichnet ist.
Statt das ideologische Scheinwerferlicht anzuwerfen, erkundet Ohde mit einer kleinen Taschenlampe die oft verschwommenen Konturen der gesellschaftlichen und familiären Verhältnisse, die es der schüchternen Heldin so schwer machen, überhaupt so etwas zu entwickeln wie eine eigene Identität. Dieses zart gewobene Textgewebe spürt den Ängsten und der Scham einer Erzählerin nach, die aufgrund ihrer Prägung am liebsten nicht wahrgenommen werden möchte und die nach bitteren Erfahrungen des Nichtbeachtens langsam und mühsam lernt, ohne Angst verschieden zu sein.
Fragil-schön sind die Sätze, in denen die Entwicklung gezeichnet ist. Elegische Passagen wechseln sich mit aphoristischen Bemerkungen ab. Die Sparsamkeit der Familie wird seziert, um dann festzustellen, dass der Vater im Billigdiscounter zuschlägt, zwei Brote statt eines in den Wagen legt, nicht „eine reduzierte Zehnerpackung Socken bei real, sondern besser zwei“.
Die Erzählerin nennt das eine „Mischung aus Völlerei und Selbstkasteiung“, die für einen proletarischen Seelenhaushalt typisch ist. Inneres Erleben spiegelt sich präzise und zugleich stimmungsvoll in der Beschreibung einer Umwelt, die für ein Aufwachsen, ein schulisches Lernen und die Vorbereitung auf das Erwachsenenleben eher abträglich sind.
Der Stolz des Vaters auf sein Arbeiterleben ist rührend, trotzig und auch ignorant: Für die Tochter, die mit Bildung im Gepäck eine andere Lebensreise antreten möchte, bringt er kein Verständnis auf: „Ich bestand für ihn nur aus großer Verletzlichkeit und Schüchternheit, und etwas Träumerisches lag in allen meinen Plänen von Abitur und Hochschulabschluss. Er hatte mir die Welt zu erklären, sobald es um etwas Handfestes wie Jobsuche ging.“
Zu den vielen dialektischen Pointen dieses Romans gehört, dass die Protagonistin nicht nur die verkommene Wohnung des Vaters, sondern das gesamte spießig-ruppige Vorstadtmilieu, aus dem sie stammt, mit dem Studium weit hinter sich lässt. Sie wird zwar weiterhin die in ihrer Selbstzufriedenheit seltsam überheblichen Freunde besuchen, aber die Berührungspunkte mit der Vergangenheit werden seltener. Nicht mal ein zeitweiliger Putzjob wird sie mehr runterziehen können.
Diese Heldin wird ihren Weg machen, gewiss anders, als der Romanvater vermutet, denn vielleicht wird sie Schriftstellerin werden und auf großen Bühnen stehen, obwohl sie das einst für unmöglich hielt. Ihr Schlüssel zum Erfolg: die Sprache. Sie wird die väterliche Schwäche, die sich Stolz nennt, mit bestmöglichen Worten beschreiben. Ihr braucht man die Welt nicht mehr zu erklären.
Selbstverständlich wäre es zu einfach, den Roman ausschließlich autobiografisch zu lesen, doch die Erkenntnistiefe der Erzählung lässt erahnen, dass Deniz Ohde durchaus ihre Erfahrungen mit dem bundesdeutschen Schulwesen und wahrscheinlich auch ihre Familiengeschichte verarbeitet hat. So ist dieser beeindruckend gelungene Roman über die Ungerechtigkeiten und Unverschämtheiten im hiesigen Bildungssystem auf verquere Weise auch ein Beleg dafür, dass nicht alles schlecht ist in diesem System, sondern immer noch Chancen bietet, einen eigenen Lebensweg zu gehen.
Carsten Otte
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