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Bücherstapel auf der Franfkurter Buchmesse 2015
© picture alliance / Frank Rumpenh

Die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2020: Reiche Ernte

Wie üblich vielfältig, voller Überraschungen - und mit Robert Seethalers Mahler-Roman: Die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2020. Ein Kommentar.

Es gab mal eine Zeit, ungefähr in den mittleren Jahren des seit 2006 verliehenen Deutschen Buchpreises, in der es häufig Klagen darüber gab, dass die jeweils nominierten Titel zu viel Aufmerksamkeit beanspruchen und den Buchmarkt im Segment der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dominieren würden. Andere Titel hätten kaum noch eine Chance.

Inzwischen ist es aber so, dass zumindest auf der Longlist dieses Preises zumeist so viele überraschende Titel stehen, dass es nur heißen kann: Ach, wie reich und vielfältig die deutschsprachige Literatur doch ist! Was gilt es nicht alles noch zu entdecken, auch an Unbekanntem!

Das Wörtchen „vielfältig“ fehlt in keinem Statement der Jurys, so auch nicht dieses Jahr, da zum fünfzehnten Mal eine Longlist mit zwanzig Titeln bekanntgegeben wurde: „Es freut uns, dass auch Bücher vertreten sind, die die Form des Romans aufbrechen und mit ihr experimentieren“, verlautbarte die Jurysprecherin Hanna Engelmeier. „Die Longlist repräsentiert so nicht nur eine Vielfalt von Themen, sondern auch die Vielfalt poetischer Ausdrucksformen dieser Saison.“

Große Verantwortung für die Frühjahrstitel

Die österreichische Autorin namens Helena Adler (ein Pseudonym) mit ihrem wunderlich-grotesken Heimatroman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ dürfte jedenfalls niemand auf dem Zettel gehabt haben, nicht den Schweizer Arno Camenisch mit dem Dorf- und Kioskroman „Goldene Jahre“, und auch nicht den 1983 in Linz geborenen Österreicher Stephan Roiss, dessen Debüt „Triceratops“ es auf die Liste schaffte.

Ob diese drei Titel interessanter, poetischer, experimenteller, besser, lesenswerter sind als beispielsweise die nicht nominierten neuen oder ersten Romane von Andreas Schäfer („Das Gartenzimmer“), Sandra Gugic („Zorn und Stille“), Lorenz Just („Am Rand der Dächer“) oder Ronya Othmann („Die Sommer“)?

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Spielt keine Rolle, auch letztere sind schon vielerorts wahrgenommen worden, mehr als die Nominierten, deren Bücher wie im Fall von Adler und Camenisch im Februar und im Mai dieses Jahres herauskamen. Überhaupt der Zeitpunkt der Veröffentlichtung: Mehr als in den Jahren zuvor dürfte die Jury sich dafür verantwortlich gefühlt haben, Frühjahrstitel zu berücksichtigen; Pandemie und Lockdown haben da manchen Schaden angerichtet.

Ein Autor wie Bov Bjerg wurde zwar gefeiert für seinen wunderbaren, Anfang des Jahres veröffentlichten Vater-und-Sohn-und-Depressionsroman „Serpentinen“, konnte aber wie seine Kollegen und Kolleginnen nicht mehr auf Lesetour gehen, um gewissermaßen die Ernte für die Lobeshymnen einzufahren.

Ähnlich erging es Leif Randt mit dem feinen und späten Pop-Roman „Allegro Pastell“ (Randt stand immerhin auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises) oder Anne Weber mit ihrem großartigen, in Versen geschriebenen Porträt der Résistance-und FLN-Kämpferin Anne Beaumanoir, „Annette, ein Heldinnenepos“.

Pralles Erzählen genauso gefragt wie experimentelles

Weber und Bjerg sind sicher mitfavorisiert für die Shortlist, die am 15. September mit sechs Titeln verkündet wird; eher nicht auf der Shortlist stehen dürfte „Der letzte Satz“, der neue Roman von Robert Seethaler über Gustav Mahlers letzte Reise, der doch durchgängig in den Feuilletons verrissen wurde.

Wie dieser Roman wohl auf die Longlist kam? Auch über Charles Lewinskys „Der Halbbart“ oder Eva Sichelschmidts Roman über eine Unternehmerfamilie, „Bis wieder einer weint“, darf man sich durchaus wundern.

Doch, ja, genau, es geht um Vielfalt, nicht zuletzt die des Erzählens (und dazu gehört das pralle Erzählen eben auch).

Dafür sind im Gegenzug als andere Erzählmodelle auch die Ingeborg-Bachmannpreisträgerin 2019, Birgit Birnbacher mit „Ich an meiner Seite“, Christiane Wunnicke mit „Die Dame mit der bemalten Hand“, Valerie Fritsch mit „Herzklappen von Johnson & Johnson“, Iris Wolff mit „Die Unschärfe der Welt“, Dorothee Elmiger mit „Aus der Zuckerfabrik“, Deniz Ohde mit „Streulicht“ und Olivia Wenzel mit „1000 Serpentinen Angst“ auf der diesjährigen Longlist. Letztere vier gehören zu den von Engelmeier ebenfalls erwähnten Romanen, „die sich jüngeren identitätspolitischen Debatten widmen“.

Wer fehlt? Roman Ehrlichs Malediven-und-Aussteiger Roman „Malé“, Thomas Hettches Geschichte der Augsburger Puppenkiste, „Herzfaden“, und Jens Wonnebergers Roman „Mission Pflaumenbaum“ über die ostdeutsche Provinz, der übrigens schon im Oktober 2019 veröffentlicht wurde. Verliehen wird der Deutsche Buchpreis wie gehabt zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse am Montag, den 12. Oktober im Römer. Und zwar wie immer live, mit der Jury, einer Moderatorin oder einem Moderator und den Nominierten der Shortlist – aber ohne weiteres Publikum.

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