zum Hauptinhalt
Chronistin des Schmerzes. Joan Didion.
© Getty Images/AFP

Literatur: Das Ende der Versprechen

„Blaue Stunden“: Die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion kämpft in ihrem Roman mit dem Schicksal der Vergänglichkeit. Sie verlor innerhalb von drei Jahren ihren Mann und ihre Tochter.

Das Altern mag ein privates Schicksal sein, dessen Banalität darin besteht, dass es alle trifft, die nicht jung sterben. Banalitäten, die alle treffen, haben aber Schriftsteller noch nie davon abgehalten, sich mit ihnen auf originelle Weise zu beschäftigen, sobald sie selbst damit konfrontiert waren. Vom antiken Vielschwätzer Cicero bis in die jüngste Zeit wurde unermüdlich von alten Leuten über alte Leute geschrieben.

Aber was passiert, wenn Menschen in die Jahre kommen, die einer Generation angehören, die ein kultisches Verhältnis zur eigenen Jugend hatte? In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts war das Jungsein nicht bloß eine private (und ebenfalls banale) Angelegenheit von begrenztem und schnell vorübergehendem Interesse. Es wurde vielmehr zur ästhetischen, moralischen und politischen Kategorie. Im alten Europa, noch übersät von den Trümmern des Krieges, inszenierten die tonangebenden literarischen, künstlerischen und philosophischen Milieus ihr Jungsein als Verzweiflung im schwarzen Rollkragenpullover. Im jungen Amerika trug man andere Moden: am Leib, im Kopf und im Herzen.

Joan Didion, Jahrgang 1934, wurde in der rauschhaften Jugendlichkeit der frühen Sechziger zu einer der wichtigsten Stimmen im US-amerikanischen Literaturbetrieb. Knapp zwei Jahre jünger als Susan Sontag und nicht so dezidiert intellektuell, verkörperte sie den zartfemininen Typus des zerbrechlich wirkenden Persönchens mit überragender Begabung. Diese Begabung konnte sich eher in Redaktions- als in Seminarstuben entfalten, und die essayistisch erzählende Form, für die sie berühmt wurde, stand der „Vogue“ besser als literarischen Zeitschriften.

Die jungen Jahre gehen vorüber, es altern die Formen – die literarischen wie die körperlichen. Man weiß das natürlich, irgendwie, aber eigentlich, schreibt Didion in ihrem jüngsten Buch „Blaue Stunden“, eigentlich „habe ich mein ganzes Leben bis heute nicht ernsthaft daran geglaubt, dass ich alt werden würde“. Man ist trotzdem so alt, wie man sich nicht fühlt. Und früher oder später wird einem das vom Leben beigebracht. Dein eigenes Alter tritt aus dir heraus, dreht sich um und schaut dich an.

Davon handelt „Blaue Stunden“ (Blue Nights), das genau so melancholisch ist, wie es der Titel verspricht. Über alles sinkt Dämmerung. Man stirbt, weil man weiß, dass man sterben muss; man altert, weil man weiß, dass man altern muss, ob man nun ernsthaft daran glaubt oder nicht. Aber es wird auch jung gestorben.

Didions Adoptivtochter Quintana, Jahrgang 1966, wurde nicht einmal vierzig und lag die letzten zwanzig Monate ihres Lebens im künstlichen Koma. Während dieser Zeit, Ende Dezember 2003, starb Didions Ehemann John Gregory Dunne an einem Herzinfarkt. Didion hat darüber „Das Jahr magischen Denkens“ geschrieben, das 2005 herauskam. „Blaue Stunden“ ist ihr erstes Buch seitdem und könnte als Fortsetzung gelesen werden, als fortgesetzte Trauer und fortgeschriebene Selbstbefragung in Kreisen. Aber die Kreise werden enger, die Schritte kürzer. Die Zeit wird knapp.

26. Juli 2010. Damit beginnt der erste Absatz, vom allerersten abgesehen, in dem kursiv gedruckt der Titel erklärt wird: „Dieses Buch heißt ,Blaue Stunden’, weil ich mich in der Zeit, als ich es zu schreiben begann, gedanklich immer stärker der Krankheit zugewandt habe, dem Ende des Versprechens, den kürzer werdenden Tagen, der Unausweichlichkeit des Vergehens, dem Sterben des Glanzes.“ Sterben des Glanzes: schön. Aber nicht gut. Als ginge es in einem „Vogue“-Artikel um das Verblassen eines Seidenstoffes.

26. Juli 2010. „Heute wäre ihr Hochzeitstag gewesen.“ Nicht schön. Sehr gut. Ein einfacher Satz, der nicht simpel ist, weil der Mensch, von dem er handelt, nicht mehr lebt. Auf Didions Tisch liegen Fotos. Aber nicht vom Hochzeitsfest, sondern aus dem Jahr 1971. Didion beschreibt, wie die Fotos mit der kleinen Quintana auf dem Tisch liegen, wie Quintana zur Kirche hinausschreitet, wie die Orgel spielt. „Es gab Sandwiches mit Gurke und Brunnenkresse.“

Die Erinnerung ist verzweifelt gerecht: Orgel, Gurke, Brunnenkresse. Die Dusche und die Tränen: Quintana „wurde in der ersten Stunde des dritten Märztages 1966 geboren. Am späten Nachmittag desselben Tages, dem dritten März, wurde uns mitgeteilt, dass wir sie adoptieren könnten. Ich war unter der Dusche und brach in Tränen aus“, erinnert sich Didion an den Moment, als sie erfährt, dass auf einer Kinderstation ein Neugeborenes zur Adoption frei ist.

Didion ist eine routinierte Autorin. Sie hat ihren Stil, beherrscht ihre Tricks, pflegt ihre Ticks. Wollte man ihr das vorwerfen, wäre das, als würde man Didion vorwerfen, wie Didion zu schreiben. Dennoch laboriert – und laborieren heißt leiden am Arbeiten – dieses zu Herzen gehende Buch an seiner manchmal auf die Nerven gehenden Handwerklichkeit: Dieses Schnurren im Ton noch im Schmerzbericht, dieses kunstvolle Setzen des Takts kurz vor Ausbruch der Tränen.

Ist es ebenfalls eine Alterserscheinung, wenn neue Formen zur alten Gewohnheit werden? Wir werden alle nicht jünger. Die Leser auch nicht.

Joan Didion:

Blaue Stunden.

Aus dem

amerikanischen

Englisch von

Antje Rávic Strubel. Ullstein Verlag, Berlin 2012. 208 Seiten, 18 €.

Zur Startseite